"Könnte ein Sportpsychologe Völlers Truppe helfen?"

Von Anja Krüger Veröffentlicht:

Die 2:0-Niederlage der deutschen Nationalmannschaft gegen Ungarn im letzten Vorbereitungsspiel zur Europameisterschaft hat das Selbstbewußtsein der DFB-Auswahl angekratzt. Das ist eine schlechte Ausgangslage für das erste EM-Spiel der Deutschen heute abend im portugiesischen Porto.

Die Elf von Rudi Völler muß ausgerechnet gegen ihren Angstgegner Niederlande antreten. Trotz der letzten Niederlage verzichtet der Deutsche Fußballbund auf den Einsatz eines Sportpsychologen, der in solchen Situationen mentale Aufbauarbeit leistet. Ein Fehler?

"Für den Erfolg einer Mannschaft ist zu 80 bis 90 Prozent entscheidend, was in den Köpfen der Spieler passiert", sagt der Sportpsychologe Professor Henning Allmer von der Sporthochschule Köln. Die körperliche Leistungsstärke der meisten Mannschaften ist annähernd auf dem gleichen Niveau, die Arbeit an der mentalen Verfassung der Spieler kann also einen entscheidenden Vorteil bringen.

Kein Trainer würde darauf verzichten, daß sich bei einem Turnier ein Sportarzt um die körperliche Leistungsfähigkeit der Mannschaft kümmert. Das sollte auch für den psychischen Bereich gelten, fordert Allmer. "Gerade während eines Turniers können psychische Probleme auftreten, die auch ein gut ausgebildeter Trainer nicht handhaben kann", sagt er. Die Spieler stehen unter großem Erfolgsdruck. Versagens-ängste und Streß können sich negativ auf das Spiel und möglicherweise langfristig auch auf die Gesundheit der Kicker auswirken.

Nachdem im vergangenen Jahr bekannt wurde, daß Sebastian Deisler von Bayern München an Depressionen erkrankt war, zog Rudi Völler kurzzeitig den Einsatz eines Psychologen für die Nationalmannschaft in Betracht. Nach einem Gespräch mit DFB-Chef Gerhard Mayer-Vorfelder wurde die Idee aber zu den Akten gelegt. "Wir brauchen keinen Psychologen", heißt es kurzangebunden beim DFB. Die psychische Betreuung, Motivation und Stärkung der Mannschaft sei Sache von Teamchef Rudi Völler und Trainer Michael Skibbe.

Das stellen Sportpsychologen gar nicht in Frage. Sie wollen die Arbeit der Betreuer nicht übernehmen, sondern diese beraten. "Der Trainer muß situationsangemessene Strategien entwickeln", sagt der Sportpsychologe Dr. Oliver Kirchhof. Denn sonst kann er die Mannschaft nicht motivieren. Wichtig ist etwa, wie er mit seinen eigenen Emotionen umgeht. Läßt er sich nach einer schlechten ersten Halbzeit in der Pause in der Mannschaftskabine von seiner Wut mitreißen, kann er wichtige Infos nicht mehr an die Spieler geben.

Kirchhof hat lange die Fußballmannschaft Arminia Bielefeld beraten und bereitet zur Zeit einige Vereine auf die kommende Bundesligasaison vor. Mit der Arbeit selbsternannter "Mentaltrainer" à la Jürgen Höller, der Fußballspieler über glühende Kohlen laufen ließ, hat das nichts zu tun. Denn die Arbeit eines seriösen Sportpsychologen mit einer Mannschaft ist langfristig angelegt und wenig spektakulär, betont Kirchhof.

Die Fachleute analysieren mit dem Trainer Spiele und empfehlen im Bedarfsfall teambildende Maßnahmen oder arbeiten mit einzelnen Spielern, die in einem Leistungstief stecken. "In Gesprächen kann ein Sportpsychologe mit dem Spieler nach den Ursachen fahnden", erklärt Kirchhof. Mit Unterstützung des Spezialisten können sich Fußballer mit Imaginationstechniken auf ein Spiel vorbereiten. "Dabei wird ein Entspannungszustand erzeugt, und der Spieler antizipiert in seiner Phantasie eine Situation aus dem Spiel." In Zusammenarbeit mit dem Sportarzt optimieren Sportpsychologen auch das Regenerationsverhalten der Spieler.

"Wunder darf man vom Einsatz eines Sportpsychologen nicht erwarten", betont Kirchhof. Unnütz wäre, wenn der DFB ad hoc noch einen Fachmann für die mentale Aufbauarbeit in Portugal anheuern würde. Kirchhof: "Ein Sportpsychologe als Feuerwehrmann funktioniert nicht."

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