Pharmaceutical Care tief im Osten

Mitten in der Thüringer Provinz hat Jörg Wittig ein kleines, innovatives Apothekenunternehmen aufgebaut. Mit Präventionsprojekten und Studien zur Schmerztherapie hat er das klassische Beratungsangebot erweitert. Eine Mischung, die auch den Nachwuchs anlockt.

Von Robert Büssow Veröffentlicht:
Jörg Wittig steckt voller Tatendrang und Ideen. Mit Ärzten hat er z.B. ein Anti-Adipositasprogramm entwickelt.

Jörg Wittig steckt voller Tatendrang und Ideen. Mit Ärzten hat er z.B. ein Anti-Adipositasprogramm entwickelt.

© Robert Büssow

Jörg Wittig ist ein Mensch, für den Stillstand so schlimm ist wie Rückschritt. Das gilt für ihn persönlich wie für seine Apotheken. Der Pharmazeut ist 40, er hat strohblonde Haare, ein gewinnendes Lächeln - und er ist immer in Bewegung.

Denn es gibt viel zu tun in diesem verschlafenen Ort namens Schleiz ganz im Osten von Thüringen, den viele nur als Abfahrt an der A 9 zwischen Berlin und München kennen.

Wittig ist hier geboren, dann zog ihn die Karriere fort. Er studierte Pharmazie in Würzburg, arbeitete bei Pfizer in England, wechselte in das Zentralinstitut Arzneimittelforschung nach Sinzig bei Bonn, er promovierte und merkte am Ende: Ich möchte mein eigener Chef sein.

400 Jahre Apotheken-Tradition

Das war der Grund für ihn, nach Schleiz zurückzukehren. Seinem Vater gehörte die Böttger-Apotheke am Altmarkt, gleich gegenüber dem Rathaus, idyllisch hinter alten Lindenbäumen gelegen.

Seit über 400 Jahren steht hier eine Apotheke, seit 1965 in der Hand von Vater Helmut Wittig, der sie nach der Wende privatisierte.

Heute gehört sie dem Junior, zusammen mit der - ebenfalls vom Vater übernommenen - Filiale der Stadt-Apotheke in Saalburg. "Diese Apotheke wäre als Einzel-Apotheke schon nicht mehr überlebensfähig, wir stehen aber zu unserer Verpflichtung zur Arzneimittel-Versorgung, solange es geht", sagt Wittig.

Rezepturen werden mit Ärzten gemeinsam entwickelt

Neben der Böttger-Apotheke betreibt er zwei weitere Filialen in Schleiz. Jörg Wittig ist damit Marktführer. "Das hört sich irgendwie blöd an", hat er selbst so seine Probleme damit.

Denn den Trend zur Filialisierung sieht er eigentlich skeptisch. "Ein Apotheker, der mit Gedeih und Verderb von seiner Apotheke abhängig ist, ist noch immer die beste Qualitätsgarantie", ist er überzeugt.

Deshalb lässt er sich freiwillig QMS-zertifizieren und fördert die Konkurrenz unter den eigenen Filialen. Eine davon, die Oberland-Apotheke, hat er selbst gegründet, bevor sein Vater in den Ruhestand ging. Eine andere bot sich ihm zum Kauf an.

Die Böttger-Apotheke am Altmarkt: Schon seit über 400 Jahren gibt es hier eine Apotheke.

Die Böttger-Apotheke am Altmarkt: Schon seit über 400 Jahren gibt es hier eine Apotheke.

© Robert Büssow

Auf den ersten Blick habe sich wenig verändert, seit er die Böttger- Apotheke vom Vater übernommen hat, sagt Wittig.

Ungewöhnlich sind allerdings die großen gläsernen Trennwände, mit welchen die drei Kassen voneinander abgeschirmt sind. "Die Kunden sollen die Apotheke als vertraulichen Ort wahrnehmen.

Wer will schon sein Hämorrhoidenproblem mit ganz Schleiz teilen", erklärt er lachend. Seine Firmenphilosophie sei im Grunde ganz klassisch: "Ich versuche mich auf die Kernaufgabe des Apothekers zu konzentrieren: professionelle Beratung zu Arzneimitteln."

Individuelle Versorgung ohne Discountkonzepte

Deshalb lehnt er Discountkonzepte ab. Rezepturen, Nachtdienste, kostenlose pharmazeutische Sprechstunden - das rechne sich nur über Mischkalkulation. Dabei werden gerade Rezepturen immer wichtiger. Pro Monat fertigen seine insgesamt 35 Mitarbeiter 70 bis 100 Arzneien nach individueller Verordnung an - vieles davon gemeinsam mit Ärzten im Ort entwickelt und zur Produktreife geführt.

"Eine win-win-win-Situation für Arzt, Patient und Apotheke", sagt Wittig. Ein Beispiel: Seiner Kenntnis nach gibt es nur noch eine einzige wirklich wirksame Hämorrhoidensalbe auf dem Markt - jetzt mischt er seine eigene, bessere zu einem günstigeren Preis.

"Meine Devise lautet: Wenn ich von nichts mehr abraten kann, muss ich meinen Beruf aufgeben. Das unterscheidet uns vielleicht von anderen. Deshalb ärgere ich mich auch über die Trivialisierung des Arzneimittels", wie er es ausdrückt.

Höherwertige Kosmetika und konkurrenzfähige Preise

Dass beispielsweise Johanniskraut trotz seiner Wirkung auf andere Medikamente frei in Drogerien erhältlich ist, findet er unverständlich. Ramschangebote sind bei ihm Fehlanzeige - "die fördern nur den Mehrverbrauch von Arzneimitteln - und das ist abzulehnen. Trotzdem müssen unsere Preise konkurrenzfähig sein. Sonst laufen auch uns die Kunden weg."

Im Sortiment setzt er auf höherwertige Kosmetika, beispielsweise Olivenprodukte. Ein weiteres Regal ist für rezeptfreie Arzneien aus Heilpflanzen reserviert. Wittig hat über Flavonoide promoviert und ist überzeugt von der "Kraft der Pflanzen", wie er sagt.

Darüber hinaus will er einen Bogen zu moderner "Pharmaceutical Care" schlagen. Denn die Margen schrumpfen, der Druck der Billiganbieter und Versandapotheken wächst. "Die fetten Jahre sind schon lange vorbei. Man muss sich immer etwas Neues einfallen lassen", so Wittig.

Beispielsweise das Projekt IDAA. Dabei handelt es sich um ein interdisziplinäres Anti-Adipositasprogramm für Kunden, das er im Rahmen einer Fachapothekerarbeit gemeinsam mit einer Apothekerin des Hauses sowie Ärzten und Physiotherapeuten entwickelt hat und das allmählich auch kommerziell ein Erfolg wird.

In Schleiz wird auch geforscht und publiziert

Und in Schleiz wird auch geforscht und publiziert: So startet mit Kollegen des Klinikums Heidenheim jetzt als weitere Fachapothekerarbeit eine Studie zur Optimierung der Schmerzmitteltherapie, in der Dosis und Einnahmezeitpunkt individuell modifiziert werden.

"Diese pharmazeutische Verantwortung können Discounter gar nicht wahrnehmen", sagt Wittig. Genauso wie die Ausbildung von Fachapothekern und eine gründliche Fortbildung der Mitarbeiter, die er deshalb ans Bonner Kolleg für Klinische Pharmazie oder in den Zertifikatskurs "Clinical Pharmacy" Tübingen schickt. Die Folge - und wir reden von Schleiz, einem Ort mit 8000 Einwohnern: "Andere suchen händeringend, bei mir bewerben sich Apotheker", sagt er stolz.

Seit Kurzem trommelt Wittig als Vizepräsident der Landesapothekerkammer auch auf politischer Ebene für das Konzept der klassischen Apotheke. "Die Politik ist oft ahnungslos. Wir schieben ja nicht nur Arzneimittel über den Tisch." Und es gebe immer wieder schwarze Schafe in der Branche.

Als Referent der Landesapothekerkammer unterstützt er zudem Kollegen etwa bei der Umsetzung von Aufklärungskampagnen der LAK in Thüringen. So geschehen bei der Kampagne "Tatort Kaffeefahrt", bei der er während einer Kaffeefahrt der etwas anderen Art über minderwertige Heilprodukte und Verkaufstricks aufklärt. Ein innovatives Konzept - ganz nach Wittigs Geschmack.

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