Das Problem: zu viel des Guten

In Migrantenfamilien gibt es häufig Probleme in Sachen Ernährung. Das haben viele Haus- und Kinderärzte täglich vor Augen.

Angela MisslbeckVon Angela Misslbeck Veröffentlicht:

Jedes sechste Kind in Deutschland gilt bei Schulbeginn als übergewichtig. Zu viele Pfunde tragen vor allem Kinder aus Migrantenfamilien mit sich herum. In Berlin brachten bei der Einschulungsuntersuchung 2007 insgesamt 11,6 Prozent der Kinder zu viel auf die Waage, 4,8 Prozent von ihnen galten als adipös. Bei Kindern aus türkischen und arabischen Familien wurden Übergewicht oder Adipositas doppelt so häufig festgestellt wie bei deutschen Schulanfängern. Als übergewichtig wurden 11,9 Prozent der türkischen und 10,6 Prozent der arabischen Kinder eingestuft. Adipös waren 10,7 Prozent beziehungsweise 7,9 Prozent. Von den deutschen Kindern waren 5,5 Prozent übergewichtig und 3,2 Prozent adipös.

Auch in der Adipositas-Sprechstunde am Sozialpädiatrischen Zentrum der Charité Universitätsklinik sind Kinder mit Migrationshintergrund signifikant überrepräsentiert. Ärzte, Psychologen, Ernährungsberater und Bewegungstrainer arbeiten dort zusammen. Das Angebot gilt als beispielhaft. Rund die Hälfte der in der Spezial-Sprechstunde vorgestellten Kinder stammen aus Migrantenfamilien, etwa ein Viertel davon aus türkischen. In dieser Patientengruppe ist der Anteil von Kindern mit extremer Adipositas besonders stark ausgeprägt. Er beträgt 58 Prozent.

Kinder aus türkischen Familien sind häufig adipös

"Die Entwicklung risikogruppenzentrierter und kultursensibler Programme sollte deshalb forciert werden", so das Ergebnis der Studie des Sozialpädiatrischen Zentrums der Charité zur Inanspruchnahme der Adipositas-Sprechstunde.

Auf diesem Gebiet engagiert sich die Kinderärztin Dr. Renate Schüssler vielfältig, auch nachdem sie ihre Praxis in Berlin-Kreuzberg abgegeben hat. Schüssler wirkt seit Jahren an zahlreichen Projekten mit, die Frauen aus Migrantenfamilien Ernährungswissen vermitteln. "Das Wichtigste an Ernährungsberatung für Migranten ist, dass sie kultursensibel ist. Dabei müssen alle Aspekte berücksichtigt werden: Qualität, Quantität, Soziales, Kultur und Psychologie", sagt die engagierte Kinderärztin.

Die Qualität der Ernährung ist in türkischen Familien oft das kleinere Problem, denn die türkische Küche kennt beispielsweise viele Gemüsegerichte. Ein Plus ist auch, dass meist selbst gekocht und in Ruhe gemeinsam gegessen wird, meint die Hebamme Silja Rehfeldt aus dem Gesundheitszentrum Bergmannstraße. Sie hat im Rahmen des Kinderleicht-Projektes "Gesund sind wir stark" eine Schulung zur Gesundheitstrainerin gemacht. Das Projekt will vor allem türkischen und arabischen Schwangeren und Müttern mit Kleinkindern einen gesundheitsfördernden Lebensstil vermitteln. Eine ausgewogene Ernährung und regelmäßige Bewegung soll für sie zur Selbstverständlichkeit werden.

"Die Menge macht's", meint die Krankenschwester Aynur Selbes, die mit 14 Jahren aus Ostanatolien nach Berlin kam und ebenfalls die Trainerschulung des "Gesund sind wir stark"-Projektes absolviert hat. "Tatsache ist, dass die Menschen aus diesen Regionen sich eigentlich gut ernähren. Der Knackpunkt ist die Gastfreundschaft", sagt Aynur Selbes und spielt auf die Zwischenmahlzeiten und Häppchen an. Denn wenn Gäste da sind, muss immer etwas Essbares auf dem Tisch stehen. "Das ist bei mir zu Hause nicht anders", sagt Aynur Selbes. Nur bietet sie statt Chips oder Schokolade zum Beispiel mundgerecht geschnittene und lecker gewürzte Mohrrüben an. Das Wichtigste an Ernährungsberatung für Migranten aus ihrer Sicht: "Es soll glaubhaft sein, und jeder soll damit im Alltag gut umgehen können."

"Die Ernährungsberatung muss glaubhaft sein"

Ein besonderes Problem sind äußerst traditionell eingestellte muslimische Familien. Dort gilt oft noch das Motto "Dick ist gut". Körperfülle symbolisiert Wohlstand. An solchen Glaubenssätzen scheitern dann oft selbst die eigenen Landsleute bei der Ernährungsberatung, so die Erfahrung von Aynur Selbes.

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