Auf dem Weg zu einer evolutionären Medizin
Unsere genetische Ausstattung ist prima an ein Leben wie in der Steinzeit angepasst. Was damals von Vorteil war und das Überleben sicherte, wird in der heutigen Zivilisationsgesellschaft jedoch oft zum Risikofaktor. Viele Krankheiten verstehen wir nur, wenn wir die evolutionären Prozesse dahinter analysieren.
Veröffentlicht:Die evolutionäre Medizin sieht also den Menschen in Gesundheit und Krankheit als Ergebnis einer langen Entwicklung. Professor Detlev Ganten stellt beim DGIM-Kongress in Wiesbaden Beispiele vor, die zeigen, dass biologische Gegebenheiten, die unter früheren Bedingungen Überlebensvorteile brachten und daher konserviert wurden, den heutigen Bedingungen des Lebens nicht mehr angepasst sind.
So hat die Entwicklung des aufrechten Ganges den Menschen zu einem geschickten und vielseitigen Generalisten als Jäger und Sammler gemacht, heute allerdings fordert dies seinen Tribut in Form von Krankheiten an der Wirbelsäule und am Skelettsystem, so der Vorsitzende des Stiftungsrats der Stiftung Charité. Waren die guten Futterverwerter in früheren Zeiten etwa die überlebenden Gewinner, führt dieses evolutionäre Erbe heute bei überreichem Nahrungsangebot zu Übergewicht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes.
Ein anderes Beispiel: Das Renin-Angiotensin-System (RAS) hatte evolutionär die Aufgabe, den Blutdruck unter allen Umständen aufrechtzuerhalten und eine Dehydrierung zu verhindern. Dazu hält es Salz und Wasser in der Niere zurück und verengt bei Volumenmangel die Gefäße. Früher in der Savanne, dem Ursprungsort des Homo sapiens, waren Salz und Wasser knapp, und er verlor diese durch Hitze, körperliche Arbeit und Schweiß. Ein aktives RAS half ihm, zu überleben. Bei der heutigen Lebensweise und dem hohem Salzkonsum ist das RAS überaktiv, und der Blutdruck ist bei 50 Prozent der erwachsenen Bevölkerung zu hoch. Uns bleibt daher die Wahl, zurück zur Lebensweise der Jäger und Sammler zu gehen oder aber, bei Bluthochdruck, das RAS medikamentös auszuschalten, stellt Ganten fest.
Auch Angst, Schmerzen und Fieber sind ursprünglich als Schutzmechanismen entstanden, führen heute aber häufig zum Arzt. Angeborene Fehlbildungen, wie Neuralrohr- oder Ventrikelseptumdefekte, sind Embryonalstadien, die persistieren, und sind damit Zeugen phylogenetischer und ontogenetischer Entwicklungsstadien.
Die evolutionäre Betrachtungsweise ist somit wichtig für das Verständnis der Natur des Menschen -des Gesunden wie auch des Kranken. Die Ergebnisse des Humangenomprojektes sowie die Erforschung der Genome vieler anderer Spezies in Verbindung mit neuen funktionellen Analysen von Modellsystemen lassen nach Auffassung von Ganten rasante Fortschritte erwarten und erfordern neue Strukturen der wissenschaftlichen Arbeit, der Übersetzung der Forschungsergebnisse in die ärztliche Praxis und der Vermittlung dieses Wissens.
Die Evolution einer neuen Medizin nimmt den Gedanken der Evolution des Menschen auf und erweitert sie durch neue methodische Möglichkeiten. Ziel, so Ganten, ist das bessere Verständnis von Gesundheit und Krankheit und die Entwicklung einer personalisierten Behandlung und Prävention.
Diese Fortschritte sind nach Gantens Angaben möglich, wir seien dafür aber nicht genug vorbereitet. In wenigen Jahren werde man das komplette Genom für 1 000 Euro sequenzieren können, und es würden leistungsfähige Methoden zur Charakterisierung des Proteoms etabliert sein, stellt Ganten fest. Diese könnten die Analyse der Pathophysiologie von Krankheiten, die klinische Diagnostik aber auch Therapie und Prävention bereichern. Dazu, so Ganten, sind jedoch ganz neue Strukturen in der Forschung und in der Klinik nötig. Diese Entwicklungen müssen unter einem ganzheitlichen Blickpunkt des Fortschritts in der Medizin, der Kosten, aber auch der Chancen für die Gesundheitswirtschaft gesehen werden. (eb)
Den Vortrag "Evolution der Medizin - Wie viel medizinischen Fortschritt vertragen wir" hält Professor Detlev Ganten am Mittwoch, 22. April, um 12 Uhr in Halle 1.