"Ich komme mir vor wie ein Assistent, der noch sehr viel lernen muß"

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"Ich wohne gleich gegenüber der Ministerin", sagt der grauhaarige Mann und steigt die Treppen hinauf. Trotz der Regierungsnähe ist das Zimmer nur mit dem Nötigsten eingerichtet, dazu ein englisches Wörterbuch, gynäkologische Literatur und ein Weltempfänger.

Die Gesundheitsministerin von Somaliland residiert in der 3. Etage einer Frauenklinik. Und der Schwabe Hans-Rudolf Soffner ist vom Senioren Experten Service (SES) in die abtrünnige Republik im Nordwesten Somalias geschickt worden. Als Freiwilliger hilft der Arzt im Ruhestand dort für zweieinhalb Monate Kinder auf die Welt zu bringen.

"Meine Frau war nicht so begeistert", sagt Soffner. Sie habe eigentlich auch Recht, sich über seine lange Abwesenheit zu beschweren. So richtig kann er es nicht in Worte fassen, warum er trotzdem hergekommen ist - in eine Gegend, die zu den ärmsten Ländern der Welt gehört. Die "soziale Ader" allein sei es nicht gewesen. "Es war sicher auch Abenteuerlust dabei", fügt er hinzu. Er wolle jedoch nicht als Missionar kommen, sagt der praktizierende Protestant. "Ich komme mir mehr vor wie ein Assistent, der hier viel lernen muß."

Soffner arbeitet in dem "Edna Adan Maternity Hospital" in Hargeisa, der faktischen Hauptstadt von Somaliland. Edna Adan, gelernte Hebamme und Ex-Frau des ersten Präsidenten der Republik, gründete mit einem Teil ihres Vermögens die Mutter-und-Kind-Klinik. Später ging sie in die Politik, wurde erst Gesundheits- und schließlich Außenministerin. Sie ist eine wichtige Figur im Kampf gegen die Genitalverstümmelung von Mädchen. Etwa 95 Prozent aller Frauen in Somaliland sind im Kindesalter beschnitten worden.

"Mit Rasierklingen oder Glasscherben werden die Schamlippen abgetrennt, anschließend wird die Wunde mit Dornen verklammert." Soffner beschreibt das Ritual mit der Nüchternheit des Mediziners. "Oft ist die Öffnung so klein, daß Urin und Blut nicht richtig ablaufen können." Viele Frauen hätten schon beim Wasserlassen Probleme, von Geschlechtsverkehr und Geburten gar nicht zu reden.

"Ich habe noch keine Frau gesehen, die nicht beschnitten war", sagt Soffner. In Ednas Klinik muß jede Frau die Frage beantworten, ob und warum sie ihre Töchter beschneiden lassen will. "Viele wollen das so, aus Tradition, auch wenn es mit dem Islam nichts zu tun hat", so der Arzt. Der Druck der Familie sei erheblich. "Dabei ist der Einfluß der Mütter öft größer als der der Männer."

Soffner kümmert sich vor allem um Frauen mit Risikoschwangerschaften. Normale Geburten finden in Somaliland oft zu Hause statt - für die meisten Frauen ein jährlich wiederkehrendes Ereignis. "Was mich am meisten erschreckt, ist die Rechtlosigkeit der Frauen", sagt er. Wenn eine Frau operiert werden solle, müsse immer erst der Mann gefragt werden. "Aber wenn der Mann im Dorf ist, kann es für die Frau schon zu spät sein."

Den Frauenarzt, der 30 Jahre im baden-württembergischen Crailsheim arbeitete, prägen die Erlebnisse am östlichen Zipfel von Afrika. "Solche Aufenthalte lassen einen nicht unverändert", sagt Soffner. "Dinge, die man mal gedacht hat, stehen jetzt in einem ganz anderen Licht." Er kann es sich gut vorstellen, noch mal für eine Weile als Freiwilliger zu arbeiten. "Ich bin mit Beginn des Ruhestands jedenfalls nicht in ein Loch gefallen." (dpa)

Weitere Infos gibt es im Internet unter www.ses-bonn.de

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