HINTERGRUND

Mit Gewebe von Toten helfen Ärzte vielen Patienten, aber gesetzliche Hürden machen das Helfen schwer

Von Nicola Siegmund-Schultze Veröffentlicht:

150 bis 200 Kinder kommen in Deutschland jährlich mit einer Omphalozele auf die Welt: Eingeweide, meist Dünndarm und Teile der Leber, liegen in einer bruchsackartigen Ausweitung der Nabelschnur außerhalb des Bauchraums. Die die Eingeweide umhüllende Membran reißt oft schon während der Geburt oder wenige Stunden danach.

Um größere Defekte zu verschließen, wird häufig Bindegewebe von Toten transplantiert. Im Empfänger wird es langsam von Makrophagen abgebaut und durch körpereigenes Gewebe ersetzt.

Hilfe durch Gehörknöchelchen und Augenhornhäute

"Das allogene Bindegewebe vom Toten hat Platzhalterfunktion", sagt Professor Hans-Jürgen Pesch vom Pathologischen Institut der Universitätsklinik Erlangen. "Werden Kinder mit einer Omphalozele rasch und gut medizinisch versorgt, entwickeln sie sich völlig normal", so Pesch beim 3. Frankfurter Symposium Gewebetransplantation am Institut für Rechtsmedizin der Universitätsklinik.

Die Omphalozele ist eines von vielen Beispielen, wie menschliche Gewebetransplantate Patienten helfen können. Die Abdeckung offener Zelen bei Neuralrohrdefekten ist ein weiteres Beispiel. Aber auch Gehörknöchelchen und Augenhornhäute werden verpflanzt, um Menschen vor vollständiger Taubheit oder Erblindung zu bewahren. Den größten Bedarf aber sieht Pesch in der Unfallchirurgie, bei Endoprothesen und Dentalimplantaten.

Obwohl vielfach auch Gewebe von Tieren verwendet werden kann, wird der Bedarf an menschlichen Zellen und Geweben künftig eher steigen. "Der Einsatz von menschlichem Gewebe bringt im Gegensatz zu tierischem und synthetischem die besten Ergebnisse", sagt Professor Hansjürgen Bratzke, Direktor des Rechtsmedizinischen Instituts. Ihn wurmt, daß es "in Deutschland so viele Hindernisse für die Entnahme von Geweben bei Toten gibt".

So kämen jährlich etwa 1300 Leichen in das Institut in Frankfurt am Main, und bei 70 bis 80 von ihnen seien in der Zeit vor dem Transplantationsgesetz (1997) Augenhornhäute entnommen worden. Etwa 20 Toten pro Jahr wurden andere Gewebe entfernt. Nach 1997 sei die Zahl der Gewebespender auf fünf bis sieben pro Jahr geschrumpft.

Der Grund: Dem Gesetz zufolge muß die zu Lebzeiten dokumentierte Zustimmung des Toten oder eine Einwilligung der Angehörigen vorliegen. Selbst Organspende-Ausweise fallen Bratzke zu Folge häufig unter den Tisch: "Zehn bis 14 Prozent der Bevölkerung haben einen solchen Ausweis", so der Forensiker. Diese lägen aber binnen 24 Stunden, die für die Organisation einer Gewebespende zur Verfügung stünden, meist nicht vor. Bratzke und sein Mitarbeiter Dr. Markus Parzeller plädieren daher für eine zentrale Registrierung des Spenderwillens.

Zur Zeit haben Gesundheitspolitiker und Juristen aber mit der Gewebespende ganz andere Sorgen. Die EU-Richtlinie "Zellen und Gewebe" (2004/23EG) vom März 2004 muß bis zum 7. April 2006 in nationales Recht umgesetzt sein. Die Umsetzung erfolge im Arzneimittel- und im Transplantationsrecht, so Friedger von Auer vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung.

Die Ständige Kommission Organtransplantation bei der Bundesärztekammer schlägt in einem kürzlich vorgelegten Eckpunktepapier allerdings vor, die Zell- und Gewebespende hauptsächlich im Transplantationsgesetz zu regeln. Viele Gewebe, etwa Augenhornhäute, Herzklappen und große Gefäße, würden unter den selben Bedingungen wie Organe entnommen. Damit seien ethische Anforderungen verbunden, wie sie im Arzneimittelrecht derzeit nicht berücksichtigt würden, so das Argument.

Die Kommission lehnt wirtschaftliche Anreize für die Zell- und Gewebespende ebenso ab wie den Handel mit Transplantaten. Das Verbot der Kommerzialisierung erfordere allerdings auch eine transparente Regelung der Kosten. "Die treuhänderische Verwaltung und öffentliche Finanzierung macht eine einheitliche Gestaltung und Überwachung der Finanzen unerläßlich", heißt es in dem Positionspapier.

Zudem wird darin der Entnahme von Organen klar Vorrang gegeben vor der Entnahme von Zellen und Geweben für die Transplantation. Ärzte müßten schriftlich begründen, warum sie ein Organ für nicht transplantabel hielten, welches dann eventuell für die Gewebespende zur Verfügung stünde.

Die Verwendung entnommener Gewebe wird kaum kontrolliert

Auch in Bezug auf Weiterverwendung und Verteilung von Zell- und Gewebetransplantaten muß der Gesetzgeber noch rechtliche Lücken schließen. Für die Verteilung von Organen gibt es Allokationsregeln. Wie aber zur Transplantation entnommene Zellen und Gewebe weiter verwendet werden, ist zur Zeit kaum durchschaubar und wird nicht systematisch kontrolliert.

Ob die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO), für die Koordinierung der postmortalen Organspende zuständig, über ihre Tochtergesellschaft DSO-Gewebe GmbH auch Zuständigkeiten im Bereich der Gewebeweiterverwendung und -vermittlung erhalten sollte, ist derzeit umstritten. Es könnte, so die Befürchtung, Interessenkollisionen mit der Spende von Organen geben.

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