Flughafen-Ärzte - arbeiten im Minutentakt der Katastrophen

FRANKFURT/MAIN. Bei zwei der fünf Behandlungskabinen leuchtet die gelbe "Belegt"-Lampe, das Wartezimmer ist leer. Ungewöhnlich ruhig. Arzthelferin Anette Trapp zuckt mit den Schultern. "Das kann sich schlagartig ändern." Die Ruhe hier ist immer eine vor dem Sturm. Hier, in der Ambulanz des Frankfurter Flughafens Fraport Terminal C, Tor 12, wo Flieger im Minutentakt abheben und landen, wo Menschen aus aller Welt in die Klinik gespült werden, wo zwischen Abflug und Anflug die Katastrophe liegen kann.

Von Anita Strecker Veröffentlicht:

Notarztleiter Rainer Hofmann nutzt die Ruhe, um einen Vortrag vor der EU-Kommission vorzubereiten, den er am nächsten Tag in Lissabon halten wird. Neue Techniken in der Reisemedizin. Sie sind gefragt, die Notärzte vom Airport mit ihrer Logistik einer Rund-um-die-Uhr-Betreuung, ihrer Kompetenz in Krisenintervention, die im Reigen der internationalen Flughäfen ziemlich einzigartig ist.

Kairo, Manila, Lima, Antalya, Jacksonville und immer wieder die EU- Kommission - "überall sollen wir Katastrophenabwehrpläne entwickeln helfen". Walter Graber, Chef der Flughafenklinik, zieht in seinem Büro im dritten Stock der Klinik einen prallen Aktenordner aus dem Schrank. "Unsere Bibel." Die Gebote der Katastrophenabwehr.

Der Kanon an Ablaufplänen für alle denkbaren Horrorszenarien: Absturz über der Autobahn, Bombenattentat, Crash zweier Flieger, Feuer im Terminal, Naturkatastrophen, Seuchenalarm, Terroranschlag, Zugunglück. Die Offenbarung dessen, was an Einsatzkräften und Infrastruktur nötig ist, um binnen kürzester Zeit hunderte Menschenleben zu retten.

Jeder Einsatzschritt ist bis ins kleinste Detail festgehalten

In jahrelanger Kleinarbeit haben Graber, Hofmann und der Notarztkollege Werner Schmitt ihre "Bibel" niedergeschrieben, jeden Einsatzschritt bis ins letzte Detail festgehalten. Ihre Arbeitserfahrung ist ihr größtes Kapital. "Wenn irgendwer in der Welt hustet, kriegen wir in Frankfurt immer ein paar Brocken ab."

Sie haben es erlebt. Terror, Milzbrand, Sars, den Absturz der Concorde bei Paris, den Tsunami in Südasien. Am zweiten Weihnachtstag kam die Flutwelle, Montagmorgen landete die erste Maschine mit Opfern in Frankfurt.

Im Fünf- bis Zehn-Minuten-Takt folgten die nächsten. "Innerhalb einer Stunde hatten wir 750 Opfer zu versorgen." 14 000 Passagiere aus 87 Fliegern waren es in der ersten Woche. Traumatisierte Menschen, teils nur in Badehosen, Verletzte, das Terminal voll mit panischen Abholern.

"Du gehst in die Maschine und mußt dir in Sekundenschnelle einen Überblick verschaffen, wer welche Hilfe braucht." Rainer Hofmann erzählt ohne jede Regung. Gefühle ausschalten und funktionieren. Organisation ist alles. Und Routine. Eine Woche lang haben er, Graber und Schmitt durchgearbeitet. Mit ihnen die 14 Notfallärzte aus umliegenden Kliniken und Praxen, die mit den Fraport-Ärzten die Rund-um-die-Uhr-Versorgung in der Ambulanz sicherstellen.

"Alles erfahrene Mediziner, die mehrere Facharztausbildungen haben." Das ist Bedingung hier, sagt Graber. Hier am Drehkreuz Flughafen, wo binnen Minuten Pest und Cholera den Takt diktieren können.

Vor zwei Jahren haben die Airport-Ärzte ein Kriseninterventionsteam aufgebaut. Mehr als 60 Fraport-Mitarbeiter werden für Großeinsätze geschult und sind allzeit abrufbar. Dazu kommt die Zusammenarbeit mit dem Bundesgrenzschutz, dem Gesundheitsamt, der Uniklinik. Ein Räderwerk, das funktioniert und nötig ist, sagt Graber.

Anfang der Siebziger hat Fraport die 24-Stunden-Ambulanz für den Mikrokosmos Flughafen mit seinen 60 000 Beschäftigten und 50 Millionen Passagieren pro Jahr aufgebaut und bis heute gehalten. Wenngleich der allgemeine Kostendruck auch in der Klinik zu spüren ist.

Von ehemals sieben Notfallchirurgen sind nur Hofmann und Schmitt geblieben. Die beiden Operationssäle sind an niedergelassene Orthopäden für ambulante Operationen vermietet. Wolfgang Graber, Chef von 100 Klinikbeschäftigten, kann damit leben. In der Umgebung liegen mehr als 40 Kliniken. Die Flughafenambulanz muß weder operieren noch stationäre Betten vorhalten. "Arbeit gibt es auch so genug."

Sechs Arbeitsmediziner sind nur für die Fraport-Mitarbeiter da. Darunter Psychologen und Suchttherapeuten, die sich um illegalen Drogenkonsum kümmern. Jeder Bewerber wird vor einer Anstellung untersucht. Bei auffälligen Leberwerten oder Urinproben geht’s zum Drogenexperten, sagt Graber.

"Im Schnitt werden sieben Prozent der Kandidaten rausgefiltert". Erschreckend, ja. "Aber wir sind an alles gewöhnt." Eine Etage tiefer im Röntgenraum hängt noch die Aufnahme eines Drogenkuriers, den Zollbeamte am Morgen vorbeigebracht haben. Deutlich zeichnen sich Überraschungsei-großen Kapseln im Unterleib ab.

Ein Drogenkurier erhält unter Polizeiaufsicht Abführmittel

1000 Euro Kurier-Lohn gibt es für den Transport. "Damit ernähren die Leute in Südamerika ein Jahr lang ihre Familie." Auch das ist Routine. Hofmann verordnet Abführmittel und eine Klositzung in Polizeibegleitung. "Ein echter Scheißjob." Der 57jährige würde trotzdem keinen anderen wollen.

"Das macht die Peter-Stuyvesant-Luft." Der Duft der großen weiten Welt. Ein Satz, der immer wieder fällt. Auch Arzthelferin Anette Trapp sagt ihn. Sie ist seit 16 Jahren dabei. "In einer normalen Praxis wäre das längst langweilig."

Doch Menschen aus aller Welt faszinieren. Menschen in Extremsituationen. In Hektik, weil sie den Flieger nicht verpassen wollen; in Panik, weil sie sich nicht verständigen können; Menschen mit Psychosen, mit Traumata, mit Schlaganfällen, Embolien, Kreislaufproblemen. Menschen mit Krankheiten, die in Deutschland gar nicht vorkommen.

Idealer Anschauungsunterricht für Medizinstudenten

Das hält auch Paul Landman seit acht Jahren am Flughafen. Der Rettungsassistent sitzt in einem der drei knallroten Rettungsfahrzeuge der Klinik und finanziert damit sein Medizinstudium. Einen besseren Anschauungsunterricht könnte er sich nicht wünschen, sagt der 34jährige.

"Hier siehst du Dinge, die nur im Lehrbuch auftauchen." Etwa neulich die Frau mit den auffällig deformierten "Uhrglasnägeln", die von einem Loch im Herzen herrühren. "Bei uns wird sowas im Kleinkindalter operiert und taucht gar nicht auf."

Job oder Praktika auf dem Flughafen sind bei Medizinstudenten entsprechend begehrt. 40 junge Leute schleust Graber jedes Jahr durch den Klinikbetrieb. Auch er ist so am Airport gelandet und vor 15 Jahren hängen geblieben. Der 50jährige stößt die Tür eines voll ausgestatten Intensivzimmers auf. "Wenn Sie hier landen, sind Sie nach kurzer Zeit tot oder überstehen höchstens noch den Transport in eine Klinik."30 bis 40 Tote verzeichnet die Ambulanz pro Jahr.

"In diesem Jahr hatten wir aber auch schon eine Geburt." Rainer Hofmann huscht ein Lächeln übers Gesicht. Er wollte mal Gynäkologe werden. Lange her. Zum Wehrdienst hat er sich als Marinearzt auf einem Versorgerschiff verpflichtet. Da war er, der Duft der großen weiten Welt. Erste Verführung für den Botschaftersohn, der in Afrika, England und Frankreich lebte. "Nach dem Schiff in einer Klinik arbeiten, das ging nicht."

Dieser Beitrag ist erstmals am 24. Juni 2005 in der "Frankfurter Rundschau" erschienen.



STICHWORT

Flughafenambulanz

Die Flughafenambulanz in Frankfurt am Main existiert seit Ende der sechziger Jahre. 1973 wurde sie von der Flughafen AG, der heutigen Fraport, zur Flughafenklinik im 24-Stunden-Betrieb ausgebaut. 100 Klinikangestellte sind in der Notfallambulanz, dem Rettungsdienst und im arbeitsmedizinischen Dienst für die Fraport-Beschäftigten tätig. Die Flughafen-Klinik ist ins Notdienst-Netz der Frankfurter Leitstelle eingebunden.

Ärzte und Sanitäter werden zu Autobahnunfällen rund um den Flughafen gerufen, ebenso nach Frankfurt und in umgebende Gemeinden. Auch jedem Kassenpatienten steht die Ambulanz offen. Abgerechnet wird über die Chipkarte. Reisenden bietet die Klinik am Flughafen Impfungen an. (ana)

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