HINTERGRUND

Staub, Glassplitter und Asbest: Das "Hexengebräu" am Ground Zero hat die Helfer auf Dauer krankgemacht

Von Ronald D. Gerste Veröffentlicht:

Fünf Jahre nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 ist jetzt erstmals das Ausmaß der Gesundheitsschäden quantifiziert worden, die den Helfern vom Ort des Geschehens, den eingestürzten Zwillingstürmen des World Trade Centers, drohen. Etwa 70 Prozent der an den Rettungs- und Aufräumarbeiten Beteiligten (viele von ihnen Freiwillige) weisen dauerhafte pathologische Veränderungen der Atemwege auf.

Der 34jährige New Yorker Polizist James Zadroga starb im Januar dieses Jahres an Lungenveränderungen, die der zuständige Gerichtsmediziner eindeutig auf die Inhalation jenes staubigen Gemischs zurückführte, das am 11. September 2001 wie eine unheilverkündende Wolke über Lower Manhattan hing. Detective Zadroga ist der erste Patient, der offiziell anerkannt an den chronischen Folgen der an jenem Schicksalstag freigesetzten Toxine starb. Viele, so steht nach den jetzt bekannten Zahlen zu befürchten, werden folgen.

Fast jeder zweite Helfer hat pulmonale Probleme

Kurz vor dem Jahrestag hat das New Yorker Mount Sinai Hospital jetzt die bislang umfassendsten Daten zur gesundheitlichen Situation der "first responders" veröffentlicht - die Studie zeichnet ein weitaus düstereres Bild als bislang angenommen. Von den 9442 am traditionsreichen New Yorker Krankenhaus behandelten und nachkontrollierten Helfern hatten 46 Prozent pulmonale Probleme, 62 Prozent wiesen Beschwerden des oberen Respirationstraktes auf wie chronische Sinusitiden und Schleimhautirritationen in Nase und Pharynx. Ein Drittel der Helfer hatten eine verminderte Lungenkapazität.

Die Symptome waren zwar bei jenen Helfern, die noch am 11. September 2001 am "Ground Zero" eintrafen, mit 73 Prozent am häufigsten, doch selbst von jenen, die erst ab oder nach dem 1. Oktober an den Aufräumarbeiten beteiligt waren, haben heute 65 Prozent Symptome. Und diese Studie erfaßt noch nicht einmal die Gruppe von Menschen, die einer besonders hohen Exposition ausgesetzt waren: 15 000 New Yorker Feuerwehrleute werden separat untersucht, ihre Daten gesondert veröffentlicht.

Der Staub in der Luft bestand aus pulverisiertem Beton

Die pathogene Wirkung der Atmosphäre am Ground Zero beruht auf der Zusammensetzung der Luft, die von New Yorker Ärzten als wahres "Hexengebräu" bezeichnet wurde. Der Staub, der etwa 50 Prozent der in der Luft befindlichen Artikel ausmachte, bestand überwiegend aus pulverisiertem Beton mit einem pH von 10 bis 11 - eine äußerst hohe Alkalität, die Dr. Philip Landrigan, der Chef der Präventivmedizinischen Abteilung des Mount Sinai, mit dem pH eines Abflußreinigers verglich.

Daß diese Partikel nicht nur das Lungengewebe, sondern auch die Schleimhäute in den Sinus penetrieren konnten, lag an der Partikelgröße. 37 Prozent der vor Ort analysierten Partikel waren kleiner als 53 Mikrometer, 1,1 Prozent sogar kleiner als 2,5 Mikrometer.

Der zweite hochpathogene Bestandteil des Dunstes über Manhattan waren Glas- und Stahlsplitter in submikroskopischer Größe. "Die Leute haben an jenem Tag", so Landrigan, "Milliarden und Abermilliarden kleiner Splitter in ihre Lungen eingeatmet. Aber wir kennen noch eine dritte Komponente: Asbest. Angesichts der außerordentlich toxischen Natur dieses Gemischs ist es ziemlich logisch, eine Vielzahl von chronisch Kranken zu prognostizieren."

Das Ausmaß der Gesundheitsschäden durch "9/11" hat natürlich auch eine politische Komponente. Die von der Regierung in Washington nach hartnäckigem Insistieren vor allem der New Yorker Senatorin Hillary Clinton zur Verfügung gestellten 52 Millionen Dollar werden jetzt als unzureichend betrachtet. Die Ground-Zero-Patienten spiegeln außerdem eine Facette US-amerikanischer Wirklichkeit wider. "40 Prozent der Menschen, die zum Screeningprogramm kamen, haben keine Krankenversicherung", so erklärte Hillary Clinton. Damit liegen die Helfer vom 11. September deutlich über dem US-Durchschnitt; in dem Land mit seinen etwa 298 Millionen Einwohnern werden zwischen 37 und 40 Millionen Nicht-Krankenversicherte vermutet.

Viele Patienten wurden zuerst falsch behandelt

Im Nachhinein ist auch deutlich geworden, daß nicht alle Ärzte im Großraum New York bei der Betreuung von Helfern sehr glücklich agiert haben. Vor allem die Affektionen der oberen Atemwege sollen in einem Drittel der Fälle fehlinterpretiert worden sein. Statt ihre toxische oder mechanisch-irritative Genese zu erkennen, wurden vielen an Sinusitis leidenden Helfern Antibiotika verschrieben.

Doch Probleme des Respirationstraktes sind nur die erste offensichtliche Folge der Inhalation jenes Toxingemischs. Über eine langfristige, aber mit hoher Sicherheit zu erwartende Konsequenz gibt es noch nicht einmal Schätzungen: Wie viele der Helfer werden an Krebs erkranken? Experten gehen davon aus, daß in mittelferner Zukunft eine epidemiologische Entwicklung zu erwarten ist wie bei jenen jungen Männern, die zur Dämpfung ihrer Angst viele Zigaretten rauchten und Jahre später an Lungenkrebs erkrankten: die Millionen Soldaten im Zweiten Weltkrieg.

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