Nach Berlin und Manchester:

Ärzte und Kliniken müssen sich auf Terrorfall vorbereiten!

Die Anschläge vom Breitscheidplatz in Berlin oder in Manchester haben Defizite bei der Versorgung von Terroropfern ergeben. Die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie bietet Kurse für Notfallmediziner an und rät, für den Ernstfall zu proben.

Von Dr. Elke Oberhofer Veröffentlicht:
Einsatz nach dem Anschlag in Manchester: Bei einem Popkonzert hatte ein Selbstmordattentäter 22 Menschen getötet. © picture alliance / empics

Einsatz nach dem Anschlag in Manchester: Bei einem Popkonzert hatte ein Selbstmordattentäter 22 Menschen getötet. © picture alliance / empics

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Mit dem Anschlag in Manchester am 22. Mai hat der Terror sich erneut in unser Bewusstsein gedrängt. Dem Attentäter ist es gelungen, 22 Menschen mit sich in den Tod zu reißen. Unfassbar, dass er es offenbar gezielt auf junge Menschen, teilweise Kinder, abgesehen hatte.

Geriete man als Arzt in ein solches Szenario, würde man sich besonders verpflichtet fühlen zu helfen; man würde versuchen, sich zu erinnern, was man über die Versorgung Schwerverletzter gelernt hat, über Regeln für den Massenanfall von Notfallverletzten (MANV), über Triage und dergleichen.

Doch all das würde im Ernstfall wohl wenig nützen. Im Falle eines Sprengstoffattentats mit vielen Schwerstverletzten ist wohl jeder Arzt, selbst jeder Notfallmediziner, sofern er kein spezielles Training absolviert hat, überfordert.

Die "Terror Preparedness" war im März eines der Hauptthemen auf dem Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) in München. Dabei wurde vor allem eines klar: Wie wenig man hierzulande auf den Terrorfall vorbereitet ist. Denn dieser unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht vom zivilen MANV: Nach Oberstarzt Professor Christian Willy, Unfallchirurg am Bundeswehrkrankenhaus Berlin, ist die Zahl der Verletzten unter Umständen viel höher, die Verletzungen sind schwerer und betreffen oft mehrere Körperregionen. Es gibt Splitterverletzungen, abgerissene Gliedmaßen, Mehrhöhlenverletzungen, Verbrennungen, Barotraumata. Durch Explosionen oder Schüsse kommt es besonders oft zu lebensbedrohlichen Blutungen.

Bedrohung eines "second hit"

Vor allem aber, und das macht die Situation endgültig zum Albtraum, muss immer damit gerechnet werden, dass die Gefahr noch nicht vorüber ist, dass erneut gebombt, geschossen wird. Notfallmediziner und Chirurgen, die mit solchen kriegsähnlichen Szenarien keine Erfahrung haben, müssen sich hier auf die Expertise der Bundeswehr stützen.

Beim Anschlag von Paris 2015 mussten die Helfer die Verletzten unter der anhaltenden Bedrohung eines "second hit" versorgen. Teilweise standen sie sogar direkt unter Beschuss. "Hier sollte man die Strategie fahren, schnellstmöglich mit den Patienten den Anschlagsort zu verlassen", sagte Oberstarzt Professor Matthias Helm vom BW-Krankenhaus Ulm. Grundsätzlich ist es hierzulande aber Aufgabe der Polizei, Opfer aus der Gefahrenzone zu holen.

Beim Sprengstoffanschlag kommt es in einer "dynamischen Situation" auf die Sicherheit der Rettungskräfte an; gleichzeitig aber darauf, möglichst vielen Menschen das Leben zu retten. Laut Flottillenarzt Dr. Falk von Lübken vom BW-Krankenhaus Ulm könne das bedeuten, dass man sich vor Ort auf das Stoppen lebensbedrohlicher Blutungen beschränken muss. "Treat first what kills first", laute die Devise. Das funktionelle Outcome für den Einzelnen sei hier sekundär.

Psychologisch können die Entscheidungen, die dem Notarzt im Terrorfall abverlangt werden, äußerst heikel sein: "Unter Umständen geht es darum, ob man die Extremität eines Patienten opfert, um einem zweiten das Leben zu retten", so von Lübken in München. Wichtig sei es vor allem für Rettungsdienste, ausreichend Tourniquets zum Abbinden lebensbedrohlicher Blutungen bereit zu halten und den Umgang damit regelmäßig zu üben. Oberstarzt Christian Willy hatte noch einen Rat an alle Ersthelfer am Anschlagsort: "Kontrolliere kein Chaos, du schaffst es nicht!"

In Berlin habe man, "bei allem Respekt vor den Opfern", noch Glück gehabt, so der Unfallchirurg Privatdozent Dr. Stephan Arens, der zum Zeitpunkt des Anschlags am Breitscheidplatz an der Charité gewesen war. Die durch den Lastwagen verursachten Verletzungen ähnelten denen bei einem schweren Verkehrsunfall; das Szenario war räumlich und zeitlich begrenzt: "Letztlich war es nichts anderes, als wenn ein Bus umgekippt wäre." Dennoch hat bereits dieses "überschaubare" Attentat erhebliche Versorgungslücken aufgedeckt: Allein für einen Patienten mit einem Injury Severity Score von 55 wurden sage und schreibe 109 Blutprodukte benötigt: "Hochgerechnet auf die mögliche Gesamtzahl", warnte Oberstarzt Willy, "blutet eine Großstadt leer!"

Für Anschlag auf Klinik nicht gerüstet

Sorgen bereitet dem Referenten vor allem auch die mangelhafte Sicherheit der Krankenhäuser: Für den Fall eines Anschlags auf eine Klinik sei man hierzulande nicht gerüstet. Dabei habe der IS bereits angekündigt, vermehrt auch "weiche Ziele" ins Visier zu nehmen.

Einhellig drängen die Experten darauf, Notfallpläne für den Terroranschlag zu erarbeiten und diese einzuüben, auch wenn dies zeit- und kostenintensiv sei. Insbesondere sei der Umgang mit den für einen Anschlag typischen Verletzungsmustern einzuüben.

Die DGU hat in Zusammenarbeit mit der Bundeswehr mittlerweile einen 5-Punkte-Plan erarbeitet mit dem Ziel, die "medizinische Versorgung der Bevölkerung in besonderen Katastrophen und bei möglichen Terroranschlägen" zu gewährleisten. Laufende Kursangebote umfassen die Versorgung von Schuss- und Explosionsverletzungen, die Organisation und Kapazitätsplanung für den Terrorfall sowie die "Rettung unter Beschuss" (www.tdsc-kurs.de)

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