"Erschreckend, wie wenig Frauen über Liebe und Sex wissen"

Dirk SchnackVon Dirk Schnack Veröffentlicht:

Kaum ein Thema beschäftigt Publikumsmedien mehr als Liebe und Sex. Trotzdem bleibt das Wissen bei vielen Menschen oberflächlich. Sechs renommierte Expertinnen wollen das für die Frauen ändern - sie haben die interdisziplinäre Initiative "female affairs" gegründet.

"Es ist erschreckend, wie wenig Frauen über Liebe und Sex wissen", sagt Dr. Ulrike Brandenburg. Die niedergelassene Psychotherapeutin mit Lehrauftrag für Psychoonkologie / Sexualwissenschaft am Brustzentrum des Aachener Uniklinikums hat in vielen Patientengesprächen erfahren, wie verunsichert Frauen beim Thema Sex sind.

Zur Auftaktveranstaltung von "female affairs" in Hamburg nannte Brandenburg ein Beispiel: "Nach wie vor hält sich der hartnäckige Mythos: Wenn Mann und Frau sich lieben, dann stimmt auch der Sex." In der Realität aber gebe es für Paare viele Stolpersteine auf dem Weg zu einem erfüllten Sexualleben. Die niedergelassene Gynäkologin Professor Elisabeth Merkle aus Bad Reichenhall zählte einige davon auf:

  • Schmerzen beim Verkehr: Für viele Frauen treten die Schmerzen regelmäßig auf und tragen damit maßgeblich zur Lustlosigkeit bei.
  • Inkontinenz: Für viele Frauen noch immer ein Tabuthema, das sich negativ auf das Sexualleben auswirken kann.
  • Alltagsstreß: Haushalt, Arbeit, Kinderbetreuung - in diesem Kreislauf fehlt oft die Lust am Sex. Im Urlaub dagegen, wenn der Streß nachläßt, haben deutlich mehr Frauen Lust.

Raucherinnen mangelt es oft an Libido

Festgestellt hat Merkle auch, daß Patientinnen mit metabolischem Syndrom oder Raucherinnen oft unter mangelnder Libido leiden. Wie Frauen bei solchen Problemen geholfen werden könnte, will die vom Arzneimittelhersteller Organon unterstützte Initiative zum Beispiel auf ihrer Website oder durch Auswertungen von Umfragen beantworten.

    Auch junge Frauen sprechen mit ihrem Arzt nicht über Sex.
   

Zum "female-affairs"-Team zählen außer Brandenburg und Merkle auch die Sozialmedizinerin Professor Anita Rieder aus Wien, ihre Kollegin Dr. Edit Schlaffer, die niedergelassene Gynäkologin Dr. Anneliese Schwenkhagen aus Hamburg sowie Psychotherapeutin und Psychologin Dr. Eva Wlodarek, die in ihrer Kolumne in der Zeitschrift "Brigitte" häufig mit Fragen zum Thema Liebe und Sex konfrontiert wird.

"Das sind Fragen, die frau eigentlich auch ihrem Gynäkologen um die Ecke stellen könnte - macht sie aber nicht", hat Wlodarek inzwischen gelernt. Merkle kann das aus ihrer Praxis bestätigen. "Viele Frauen trauen sich nicht zu fragen. Als Gynäkologe sollte man deshalb um die Defizite wissen und gezielt nachfragen", rät die Ärztin aus Bayern.

Dabei sollten sich Gynäkologen nicht von sozialer Schicht und Bildungsgrad blenden lassen: "Besonders gebildete Frauen fragen aus Angst vor der Blamage nicht nach."

Professor Anita Rieder hat beobachtet, daß selbst die vermeintlich aufgeschlossene Generation der 20- bis 30jährigen Frauen das Thema Sex beim Arztbesuch am liebsten ausspart. Analysen des jährlichen Gesundheitschecks, die bei Hausärzten in Österreich vorgenommen werden, zeigen: Nicht einmal anonyme Fragebogen zum Thema Sexualität werden beantwortet - seltener noch als von den Männern. "Die Zufriedenheit mit dem eigentlichen Sexualleben ist sicherlich eine ähnliche Tabufrage in der hausärztlichen Praxis wie die Frage nach der Orgasmusfähigkeit", sagt Rieder.

Viele Frauen wissen nicht, daß Hormone den Takt angeben

Bei so viel Scham ist mangelndes Wissen keine Überraschung. Vielen Frauen ist nicht bekannt, daß ihre Hormone den Takt für ihre Lust angeben. Die hormonellen Schwankungen im Zyklus führen dazu, daß sie mal weniger, mal mehr Lust auf Sex haben. "Wenn frau das weiß, kann sie natürlich viel differenzierter - und damit auch entspannter mit ihrer Lust umgehen", sagt Dr. Anneliese Schwenkhagen.

Andere Wissenslücken erfährt Merkle in ihrer Praxis: So kennen die meisten Frauen ihre fruchtbaren Tage nicht. Viele wissen nicht, wie sie mit ihrem Partner über Verhütung reden sollen und welche Alternativen es gibt. Folge sind immer wieder Fehler bei der Verhütung: Ein Drittel der jährlich etwa 700 000 geborenen Kinder in Deutschland sind nicht geplant. "50 000 dieser Kinder werden gezeugt, obwohl die Frau die Pille nimmt", berichtete Merkle.

Das "female-affairs"-Expertenteam will solche Wissenslücken schließen und zur besseren Aufklärung beitragen. Zugleich soll deutlich werden, daß Frauen die mit der Aufklärung aufgezeigten Möglichkeiten nicht als Norm und damit als Belastung und Leistungsstreß empfinden. Wlodarek: "Wichtig ist, daß die Frauen ermutigt werden, in der Sexualität trotz aller Information ihren eigenen Gefühlen zu trauen."

Infos im Internet unter: www.femaleaffairs.de

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