Säuglingssterblichkeit

Deutschland ist nur Mittelmaß

Die Säuglings­sterblichkeit in Deutschland ist höher als in Nachbarländern, bemängelt die Stiftung Kindergesundheit. Die Gründe dafür sind vielfältig.

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Der Anteil Frühgeborener bei Geburten ist in den vergangenen Jahren gestiegen.

Der Anteil Frühgeborener bei Geburten ist in den vergangenen Jahren gestiegen.

© Tobilander / fotolia.com

MÜNCHEN. Jedes 300. Baby stirbt hierzulande, ohne seinen ersten Geburtstag erlebt zu haben. Die Säuglingssterblichkeit ist damit in Deutschland deutlich höher als in Schweden, Finnland und Norwegen.

Auch Italien, Frankreich, Griechenland, Spanien und Österreich haben bessere Werte als wir, betont die Stiftung Kindergesundheit in einer Mitteilung. Die finanzielle Lage der Länder allein könne diese Unterschiede nicht erklären.

Viele Faktoren sind verantwortlich

Alter der Mütter: Viele Frauen bekommen ihre Kinder heute in höherem Alter als früher. Damit steigen auch die Risiken für Frühgeburten. Deren Anteil ist binnen 20 Jahren in Deutschland von 7,6 auf 9,2 Prozent gestiegen; in Schweden blieb er hingegen konstant bei 5,9 bis 6,2 Prozent.

Soziale Lage: Die Säuglingssterblichkeit ist in benachteiligten sozialen Gruppen am höchsten. Als Gründe kommen etwa Rauchen und geringere Wahrnehmung der Vorsorge infrage.

Die höchsten Raten für Säuglingssterblichkeit werden in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit und hohem Anteil an Sozialhilfeempfängern registriert. Die sozial benachteiligte Lebenssituation scheint daher eine Stressbelastung für die Mütter zu sein, so die Stiftung.

Rauchen in der Schwangerschaft erhöht das Risiko für vorzeitige Blutungen, Vorfall der Plazenta, vorzeitigen Blasensprung und Frühgeburten. Das Risiko für Plötzlichen Säuglingstod (SIDS) steigt bei mehr als zehn Zigaretten täglich auf das Siebenfache.

Übergewicht: Im schwedischen Geburtenregister kamen nach einer Analyse bei Normalgewichtigen im Schnitt auf 1000 Neugeborene 2,4 Todesfälle in den ersten 28 Lebenstagen.

Bei Übergewicht der Mütter stieg die Rate auf 3,0 pro 1000 und bei starker Adipositas (BMI über 40) auf 5,8 Todesfälle an.

Stillen senkt die Säuglingssterblichkeit. Aber nur noch rund ein Viertel der Kinder in Deutschland werden wie empfohlen sechs Monate lang überwiegend gestillt.

Berufstätigkeit: Die Rate der Frühgeburten bei Frauen, die bei der Arbeit länger als drei Stunden am Tage stehen müssen, ist deutlich höher als ohne die Belastung.

Vorsorge: Bei Schwangeren, die häufiger als zehnmal zur Vorsorge gehen, liegt der Anteil der Frühgeburten bei nur 1,8 Prozent. Bei "Standardversorgten" beträgt er 3,3 Prozent.

Werden die Vorsorgeuntersuchungen seltener als empfohlen wahrgenommen, wächst die Rate auf 14,9 Prozent.

Größe der Klinik spielt eine Rolle

Die Stiftung verweist zudem auf eine Untersuchung in Hessen mit deutlichen Hinweisen, dass die Sterblichkeit von der Größe der geburtsmedizinischen Klinik abhängt, in der die Kinder geboren werden.

Das gelte auch für reifgeborene Babys ohne Risiken. Fand dabei die Geburt in einer Klinik mit weniger als 500 Geburten pro Jahr statt, lag die perinatale Sterblichkeit mehr als dreifach höher im Vergleich zu einer Klinik mit mehr als 1500 Geburten pro Jahr, so die Stiftung.

Bei Frühgeborenen war dieser Unterschied noch deutlicher. Dies könnte auch eine Ursache für die deutlich niedrigere Säuglingssterblichkeit in Schweden und Finnland ein.

Umgerechnet auf unsere Geburtenzahl würden in Deutschland 600 bis 1000 Säuglinge weniger sterben, wenn wir die niedrigen Werte der skandinavischen Länder erreichen könnten, wird Professor Rainer Rossi vom Vivantes Klinikum Neukölln in Berlin in der Mitteilung zitiert.

Dort gibt es bezogen auf die Bevölkerung viel weniger geburtshilfliche Kliniken, die dafür aber im Schnitt deutlich mehr Frauen entbinden und somit mehr Erfahrung auch mit Risikosituationen haben.

Dass die Zahl der Entbindungen in einer Klinik tatsächlich Auswirkungen auf die Säuglingssterblichkeit hat, zeigt das Beispiel Portugal.

Dort gab es 1990 mit 11,0 Promille eine weit über dem europäischen Niveau liegende Säuglingssterblichkeit. Seither wurden die Zahl der geburtsmedizinischen Kliniken von 200 auf 51 reduziert und alle Kliniken mit weniger als 1500 Geburten pro Jahr geschlossen.

Die Zahl der in einer Klinik geborenen Babys stieg in dieser Zeit von 74 auf 99 Prozent an. Die Säuglingssterblichkeit sank daraufhin drastisch auf 3,6 Promille (2006), wie die Stiftung weiter berichtet.

Vorstoß des GBA

Einen Versuch in die gleiche Richtung hat der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) auch hierzulande gestartet. Die Geburtskliniken wurden in vier Stufen (Level) eingeteilt und für jede Stufe die erforderlichen Qualitätskriterien formuliert.

Sehr kleine Frühgeborene, die bei ihrer Geburt weniger als 1250 Gramm wiegen, sollten dabei möglichst in Perinatal-Zentren der Level 1 oder 2 betreut werden.

Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Babys sterben, ist in Kliniken mit geringen Fallzahlen um 80 Prozent höher als in Kliniken mit hoher Fallzahl.

Doch der Versuch des GBA, für die Perinatal-Zentren Level 1 und 2 Mindestmengen für die Behandlung von Frühgeborenen einzuführen, ist an der juristischen Klage von Krankenhäusern gescheitert.

"Beim unbefriedigenden Abschneiden Deutschlands in der Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit spielen derartige Unzulänglichkeiten des Versorgungssystems ohne Zweifel eine maßgebliche Rolle", resümiert der Stiftungsvorsitzende Professor Berthold Koletzko in der Mitteilung.

"Wir dürfen aber auch die anderen Einflüsse nicht außer Acht lassen. Wir müssen dafür sorgen, dass Schwangere und junge Mütter weniger chronischen Stress erleben und dass ausländische Familien besser über die Vorsorgeangebote informiert werden. Besonders bildungsferne Familien brauchen mehr Hilfe auch finanzieller Art, um sie in ihrer Verantwortung für die Gesundheit ihrer Kinder zu stärken", so der Pädiater. (eb)

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