INTERVIEW

"Kinder pauschal vor Bekannten zu warnen, geht zu weit"

Kaum ein anderes Verbrechen stößt auf so heftige Abscheu wie sexuelle Gewalt an Kindern. Nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch bei denen, die als Psychologen oder Richter mit den Straftätern zu tun haben. Und wie kaum etwas anderes fürchten Eltern, Erzieher oder Kinderärzte, daß Kindern, die sie erziehen oder betreuen, so etwas zustoßen könnte. Wie man Kinder am besten vor sexueller Mißhandlung schützt und woran man sie erkennen könnte, darüber sprach Angela Speth von der "Ärzte Zeitung" mit dem Psychiater Professor Wolfgang Berner vom Institut für Sexualforschung der Uni Hamburg.

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Ärzte Zeitung: Wie klärt man Kinder am besten über die Gefahr einer sexuellen Mißhandlung auf?

Professor Wolfgang Berner: Kinder pauschal vor Verwandten und Bekannten zu warnen, von denen eine solche Gefahr ja viel häufiger ausgeht als von Fremden - das ginge zu weit. Aber man kann Kinder schon ermahnen, nicht zu vertrauensselig zu sein, nicht mit Fremden mitzugehen oder in ein fremdes Auto einzusteigen. Aber es gibt eine Gratwanderung zwischen berechtigten Warnungen und Mißtrauen säen oder Angst einimpfen.

Ärzte Zeitung: Kann man einen Triebtäter im Voraus erkennen?

Berner: Nein, es sind Menschen wie du und ich. Selbst nach 30jähriger Erfahrung als Gerichtsgutachter erschüttert es mich immer noch, wie sehr manche Täter auf den ersten Blick als nette und liebenswerte Menschen erscheinen. Sie unterscheiden sich nur durch ihre Taten: Dabei gibt es fließende Übergänge von verletzenden Übergriffen, mehr oder weniger harmlosen Annäherungen bis zu verstärktem Interesse an Kindern.

Als Faustregel gilt: Je massiver der Mißbrauch, um so seltener. An einem Ende der Skala - sehr vereinzelt - stehen die Männer, die Kinder wie eine Beute einfangen, in ihr Auto sperren und wegfahren. Dagegen ist kein Kraut gewachsen. Das andere Ende bilden die vielen pädophil orientierten Männer, die als Erzieher, Trainer oder Freizeitbegleiter Kontakte zu Kindern suchen und ihre Neigung in eher sublimierter Form ausleben.

Die Eltern staunen über ihre Beliebtheit, ihr Engagement und täuschen sich leicht darüber hinweg, daß etwas nicht in Ordnung sein kann. Oft täuschen sich auch die Täter - wie jener Lehrer, der Kinder anzufassen versuchte, wenn er sie an die Tafel rief. Er gab sich dem Glauben hin, niemand würde etwas sehen, aber Kinder merken sehr wohl, wenn man sie begehrlich ansieht oder Berührungen erhaschen will.

Ärzte Zeitung: Wie kann man Kinder wirkungsvoll schützen?

Berner: Wichtig ist, daß Kinder eine vertrauensvolle Beziehung zu ihren Eltern haben und ihnen alles sagen können, was sie beschäftigt. Daher sollten Eltern eine Atmosphäre schaffen, daß Kinder Erfreuliches und Unerfreuliches erzählen können, aus der Schule, aus den Familien, wo sie zum Spielen eingeladen sind. Kinder sollen "nein" sagen lernen, und in diesem Nein sollte man sie bestätigen, nicht jedoch behaupten: Aber das ist doch eine Autoritätsperson, die läßt sich doch nichts zuschulden kommen!

Ratsam ist auch, daß Kinder immer jemandem sagen, wo sie sich gerade aufhalten. Außerdem sollte man ein waches Ohr für Andeutungen haben und sie nicht abtun mit Bemerkungen wie: Du phantasierst ja! Kinder versuchen erst ganz vorsichtig, etwas mitzuteilen, und wenn sie auf Unglauben stoßen, schämen sie sich und ziehen sich zurück.

Ärzte Zeitung: Welche Kinder werden leicht Opfer sexueller Zudringlichkeiten?

Berner: Oft sind das Kinder, die mit ihren Eltern eine Krise erleben, die Probleme haben, über die sie mit ihren Eltern nicht sprechen können. Sie suchen dann Anschluß an andere Erwachsene. Die meisten Eltern haben nicht zu jeder Zeit eine gute Beziehung zu ihrem Kind, aber in einer schlechteren Phase sollten sie sich vergewissern, daß es sich an einen wirklich vertrauenswürdigen Menschen wenden kann.

Ärzte Zeitung: Bei welchen Andeutungen des Kindes sollte man hellhörig werden?

Berner: Zum Beispiel: Der hat mich so komisch angeguckt, so merkwürdig berührt. Das sollte man ernst nehmen, aber nicht dramatisieren, Kinder verarbeiten eine sexuelle Annäherung recht gut, wenn nichts weiteres passiert. Zudem sollte man sich davor hüten, in eine Aussage eines Kindes etwas hinein zu deuten. Es hat schon völlig verfahrene Gerichtsprozesse gegeben, weil übereifrige Erzieher zum Beispiel meinten, sie müßten das Kind detailliert ausfragen. Hinterher war dann nicht mehr zu klären, was das Kind von sich aus gesagt hat und was ihm eingeredet wurde.

Also: keine neuen Worte ins Gespräch bringen, nicht vorschlagen, wie etwas gewesen sein könnte, keine geschlossenen Fragen stellen, die ein Ja oder Nein erzwingen, wie: Hat er seinen Penis herausgenommen? Besser ist es, mit den eigenen Worten des Kindes nachzuhaken und offene Fragen zu stellen: Wie hast du dich gefühlt? Was hat er gemacht?

Ärzte Zeitung: Wenn man die ersten Andeutungen eines Kindes überhört hat - wann spätestens sollte es Alarm schrillen?

Berner: Ein mißbrauchtes Kind kann plötzlich Schwierigkeiten in der Schule bekommen, nachts einnässen oder sich von seinen Freunden distanzieren. Auch körperliche Beschwerden sind häufig, vor allem Bauchweh, aber auch Brennen im Genitalbereich, Übelkeit, Schlafstörungen, starkes Schwitzen. Das Problem dabei ist: Für all das kommt eine Palette von Gründen in Frage, etwa ein schlechtes Verhältnis zu den Eltern. Aber heute neigt man dazu, zuerst an sexuelle Belästigungen zu denken.



STICHWORT

Sexualdelikte, Sexualstraftäter

Ungeachtet der hohen Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, sind Sexualdelikte eher ein Randphänomen: Sie machen nur ein Prozent der Straftaten aus, pro Jahr werden 5000 bis 8000 Personen deswegen verurteilt, 1000 davon sind Jugendliche, darunter 50 Mädchen. Einer Rückfallstudie zufolge kommt es nicht zu einer Eskalation der Taten: Ein Exhibitionist endet nicht als Mörder. 80 Prozent der Sexualdelikte an Kindern werden von Menschen verübt, die nicht primär pädophil sind, sondern die durch eine günstige Gelegenheit an ihr Opfer geraten. Die Hälfte der jugendlichen Sexualstraftäter begeht auch noch Delikte anderer Art, 80 Prozent wurden in ihrer Kindheit selbst Opfer von Gewalt, davon 35 bis 40 Prozent wiederum von sexueller Gewalt. (ars)

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