Wenn kleine Chroniker groß werden

Endlich erwachsen – und was nun?

Chronisch kranke junge Menschen müssen sich irgendwann von ihrem Kinderarzt verabschieden. Was tun, damit der Übergang in die Erwachsenenmedizin gelingt?

Dr. Thomas MeißnerVon Dr. Thomas Meißner Veröffentlicht:
Chronisch kranke Kinder werden erwachsen - und wollen irgendwann nicht mehr vom Kinderarzt weiterbetreut werden.

Chronisch kranke Kinder werden erwachsen - und wollen irgendwann nicht mehr vom Kinderarzt weiterbetreut werden.

© Klaus Eppele / fotolia.com

"Da bin ich nicht mehr hingegangen, hat mir nicht gefallen!" Diesen Satz kennt Jana Findorff, Krankenschwester, Pflegewissenschaftlerin und seit einigen Jahren Fallmanagerin an den DRK Kliniken Berlin.

Es ist einer dieser Sätze, wie sie junge Erwachsene mit einer chronischen Krankheit wie Typ-1-Diabetes oder Epilepsie äußern, die wieder zurück wollen zu ihrem vertrauten Kinder- und Jugendarzt und nicht zurechtkommen mit der Erwachsenenmedizin.

Die ihr eigenes Ding machen, aber nicht als chronisch Kranke wahrgenommen und mit alten Menschen in einem Wartezimmer sitzen wollen, die aber doch irgendwie Hilfe erwarten – und auch brauchen.

"Wir wussten von vielen jungen erwachsenen Patienten mit Diabetes: Die haben jemanden, zu dem sie gehen können. Aber ob sie dort bleiben, das war nicht sicher und oftmals nicht gegeben", erinnert sich Findorff an Situationen vor etwa zehn Jahren.

Es war der Ausgangspunkt für das Berliner TransitionsProgramm an den DRK Kliniken im Berliner Westend, das inzwischen auf sieben Bundesländer ausgeweitet worden ist. Die Idee dazu hatten Professor Walter Burger, Leiter des Diabeteszentrums für Kinder und Jugendliche sowie Privatdozent Dr. Arpad von Moers an der Kinderklinik der DRK-Kliniken.

Denn 40 Prozent der Patienten mit Typ-1-Diabetes verlieren nach ihrem Transfer in die Erwachsenenmedizin den Kontakt zum Spezialisten. Es ist bekannt, dass Jugendliche nach dem Transfer zweieinhalb Mal häufiger HbA1c-Werte über 9 Prozent aufweisen als Jugendliche in kinderärztlicher Betreuung.

Patienten mit Nierentransplantaten verlieren die Niere im Alter zwischen 17 und 24 Jahren deutlich häufiger als jüngere oder ältere Patienten. Eine wesentliche Ursache ist die Unterdosierung von Immunsuppressiva, vermutlich als Folge unzureichender Adhärenz. Junge Menschen mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (CED) leiden oft unter Wachstums- und Reifungsverzögerungen.

Dies führt zu erheblichen psychosozialen Problemen. Jugendliche mit rheumatischen Erkrankungen kommen oft mit der Betreuungssituation beim Erwachsenen-Rheumatologen nicht zurecht – wenn sie überhaupt dort landen – , sind unzufrieden mit der ihrer Meinung nach wenigen Zeit, die ihnen gewidmet wird.

Komplikationen und Spätfolgen

Diese Beispiele skizzieren die problematische Lebenssituation der Patienten und ihrer Familien und deuten den gesundheitsökonomischen Aspekt für die Gesellschaft und das Gesundheitssystem an.

Es leuchtet ein, dass eine über Jahre verschlechterte medizinische Versorgung, deren Ursachen sehr vielfältig sind, die Gefahr von Komplikationen, der Krankheitsprogression und von Spätfolgen begünstigt. Zumindest für Typ-1- und Typ-2-Diabetes haben Studien klar ergeben, dass dies mit entsprechenden Mehrausgaben für stationäre Aufenthalte, ambulante Behandlungen und indikationsspezifische Medikamente verbunden ist.

"Ein erfolgreicher Transitionsprozess könnte den Krankenkassen Leistungsausgaben ersparen", so die Autoren des gerade erschienenen Handbuches "Das Berliner TransitionsProgramm" (De Gruyter Verlag 2016). Der Beweis dafür steht noch aus.

Wie groß der Transitionsbedarf ist, weiß man auch bei der im Jahre 2012 gegründeten Deutschen Gesellschaft für Transitionsmedizin nicht genau. "Das ist noch nie systematisch erfasst worden", so Professor Lars Pape aus dem Vorstand der Gesellschaft.

Laut den Ergebnissen des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KIGGS) haben knapp 40 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland eine chronische Gesundheitsstörung wie etwa Asthma, angeborene Fehlbildungen, Verhaltens- oder seelische Störungen und andere.

Nicht jeder chronisch kranke Jugendliche braucht die strukturierte Transition. Beim Forschungs- und Beratungsinstitut IGES, das das Berliner Transitionsprogramm (BTP) gemeinsam mit der Robert-Bosch-Stiftung unterstützt und mit entwickelt hat, geht man davon aus, dass 30 bis 40 Prozent der chronisch kranken Jugendlichen transitionsbedürftig sind.

Einen besonderen Versorgungsbedarf haben diejenigen, für die erhöhte Gesundheitsrisiken aus ihrer Krankheit selbst, aus vorhandenen Versorgungsdefiziten oder aus sozialen Problemen resultieren. "Das einzuschätzen, liegt in den Händen der Kinder- und Jugendspezialisten", sagt Findorff.

Erfahrungsgemäß haben jedoch viele Pädiater Probleme damit, ihre langjährigen Patienten abzugeben. "Sie haben schwierige Phasen mit der ganzen Familie durchlebt. Dann läuft es gerade gut oder es ist gerade wieder schwierig – in jedem Falle scheuen sie sich, in dieser Situation den Übergang in die Erwachsenenmedizin anzugehen." Die Patienten selbst wollen den Arzt nicht wechseln, die Eltern sind verunsichert.

Das geht nicht nur Pädiater etwas an

Und auf seiten der Erwachsenenmedizin ist das Interesse an dieser speziellen Patientenklientel gering. "Ich bekomme viele CED-Patienten das erste Mal zu sehen, wenn sie weit über 20 sind. Das ist viel zu spät", sagt zum Beispiel Professor Britta Siegmund, Gastroenterologin an der Charité, die sich für eine hochqualitative Transition dieser Jugendlichen einsetzt.

Und Professor Ursula Plöckinger vom Interdisziplinären Stoffwechsel-Centrum an der Charité bekannte beim Internistenkongress im April dieses Jahres in Mannheim, sie habe lange geglaubt, Transition sei etwas, das nur die Pädiater etwas angehe. "Inzwischen sehe ich das anders."

Denn die Patienten gelangen aus einem Familien-zentrierten Versorgungsumfeld in eine Welt, in der sie selbstverantwortlich für ihre Gesundheit sorgen müssen. Soweit sie das können. "Wir treffen auf erwachsene Patienten mit intellektuellen Einschränkungen", beschrieb Plöckinger in Mannheim ihre eigenen Erfahrungen.

"Laut Psychiatriegesetz sind diese jungen Erwachsenen für sich selbst verantwortlich, häufig jedoch ohne dabei in der Lage zu sein, die eigene Erkrankung zu verstehen und die Verantwortung für eine gesunde Lebensführung, diätetische oder medikamentöse Therapie zu übernehmen."

Dennoch müssten ihre Entscheidungen in Bezug auf Diagnostik und Therapie akzeptiert werden.Des Weiteren ist der Arzt konfrontiert mit sozialen Fragen wie betreutem Wohnen oder Beschäftigung in einer Behindertenwerkstatt. Auffälliges Äußeres, Partnerbeziehungen, Sexualität – all dies sind Probleme, für die sich der spezialisierte Internist nicht unbedingt verantwortlich fühlt.

Dennoch ist klar, dass all diese Faktoren die Bewältigung der Krankheit und die Therapieadhärenz beeinflussen – ganz abgesehen vom medizinischen Versorgungsbedarf, der bei seltenen Stoffwechselerkrankungen eine intensive interdisziplinäre Zusammenarbeit erfordert.

Nicht jedes Transitionsmodell wird für jeden chronisch kranken Jugendlichen passen. Dennoch sind für große Gruppen transitionsbedürftiger Patienten ähnliche Bedürfnisse identifiziert worden. Daher ist etwa das BTP als Matrix gedacht für Strukturen, die auch anderswo funktionieren könnten.

Im Zentrum stehen Fallmanager als ständige und vertraute Ansprechpartner der Patienten und Koordinatoren, die den gesamten Prozess steuern. Pädiater sollen den Transfer rechtzeitig anbahnen, Informationen an den Patienten und die Eltern vermitteln.

Dazu sind Materialien für alle Beteiligten entwickelt worden. Im Alter zwischen 16 und 18 Jahren erfolgt das erste, etwa halbstündige Transitionsgespräch, in dem vor allem der Unterstützungsbedarf ermittelt wird. Damit wird der Patient ins Programm integriert.

Es folgt der Transfer an den weiterbetreuenden Spezialisten der Erwachsenenmedizin mit standardisierter Epikrise. Drei bis sechs Monate später findet das zweite halbstündige Transitionsgespräch statt, gegebenenfalls gemeinsam mit dem zuvor betreuenden pädiatrischen Spezialisten oder ergänzt um eine Fallkonferenz.

Fallmanager achtet darauf, dass Arzttermine eingehalten werden

Aufgabe der Fallmanager ist es, die Patienten einer Fallgruppe zuzuordnen, darauf zu achten, dass Arzttermine eingehalten werden. Sie koordinieren Termine, unterstützen die Befundübermittlung und planen erforderliche Fallkonferenzen. Nach zwölf Monaten findet ein Abschlussgespräch statt, um den Prozess abschließend zu bewerten. Damit endet die Transitionsphase.

Die Initiatoren des BTP haben Software-Lösungen für die Dokumentation und das Datenmanagement entwickeln lassen bis hin zu einer App für Smartphones mit Chatfunktion, Checklisten und Links. Die App gewährleistet den datengeschützten und unkomplizierten Kontakt zu den Jugendlichen und sie ermöglicht es, zielgruppengerechte Informationen zu versenden.

Hinzu kommen Informationsmaterialien und Fragebögen für Jugendliche und Eltern, Flyer für Fach- und Hausärzte, Akteneinlagen und indikationsspezifische Materialien. Jede einzelne Phase der Transition und die zu erfüllenden Aufgaben der beteiligten Ärzte und Teams wird im BTP genau beschrieben.

Von Vornherein war es das Ziel der Initiatoren, dieses Konzept für Nachahmer in anderen Regionen Deutschlands attraktiv zu machen. Außer in Berlin und Brandenburg wird es inzwischen in Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Hamburg und Hessen praktiziert oder aufgebaut.

Nach Findorffs Angaben sollen lokale Transitionsstellen gegründet werden. Um vor Ort passende Vertrags- und Geschäftsmodelle zu entwickeln, hat sich der Verein BTP e.V. gegründet und es sind verschiedene gesetzliche Krankenkassen mit ins Boot geholt worden.

So unterstützt die Techniker Krankenkasse das Projekt bundesweit. Dennoch ist die Finanzierung zum Aufbau und Erhalt von Transitionsstrukturen ein entscheidender Knackpunkt, um auf diesem Feld weiter voran zu kommen. "Die Deutsche Gesellschaft für Transitionsmedizin fordert, dass Transition zu einer Regelleistung in Deutschland werden muss", erklärt Professor Pape.

Und Jana Findorff ergänzt: "Wir denken, jeder Jugendliche mit einer chronischen Krankheit sollte die Möglichkeit einer strukturierten Transition in die Erwachsenenmedizin haben."

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