Bluter-Therapie wird immer einfacher

BERKELEY. Durch die Möglichkeit, den Gerinnungsfaktor VIII gentechnisch herzustellen, hat die Hämophilie-Therapie große Fortschritte gemacht. Inzwischen gibt es erste Hinweise, dass zur Prophylaxe eine Infusion nur einmal pro Woche mit einem lang wirkenden Präparat ausreicht.

Von Hagen Rudolph Veröffentlicht:

Es scheint, als komme wieder etwas mehr Bewegung in die Versorgung von Patienten mit Bluter-Krankheit. Studien-Ergebnisse belegen, dass mit den vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten den Patienten das Leben noch erheblich erleichtert werden kann, und für die nächsten Jahre sind erst durch neue Arzneimittel und später wohl auch durch die Gentherapie große Therapiefortschritte zu erwarten.

Noch vor etwa 100 Jahren haben Hämophilie-Patienten mit einem sehr kurzen und auch im normalen Alltag hoch gefährdeten Leben voller Schmerzen und schweren Behinderungen rechnen müssen. Anfang des 20. Jahrhunderts lag ihre durchschnittliche Lebenserwartung bei 16 Jahren. Heute liegt sie, zumindest dann, wenn die Kranken optimal behandelt werden, bei etwa 70 Jahren, etwa so, wie in der Normalbevölkerung.

Etwa 80 Prozent der Bluter haben eine Hämophilie A

Die meisten Bluter, etwa 80 Prozent, haben eine Hämophilie A, sie produzieren wegen eines Gendefekts zu wenig oder in schweren Fällen gar keinen Gerinnungsfaktor VIII. Etwa 15 Prozent haben eine Hämophilie B, sie leiden unter einem Mangel des Gerinnungsfaktors IX. Andere Störungen des Gerinnungssystems, an dem 13 verschiedene Faktoren mitwirken, sind extrem selten. Die Folgen eines Mangels von Faktor VIII oder Faktor IX sind ähnlich: Es kommt zu Einblutungen in die Muskeln und die Gelenke. Wird die Blutung in Gelenke zum Beispiel nicht sehr schnell gestoppt, indem der jeweils fehlende Gerinnungsfaktor intravenös injiziert wird, können die Gelenke schwer geschädigt werden, was zu Behinderungen führt.

In Deutschland gibt es etwa 4000 Patienten mit einer Hämophilie A und 800 mit einer Hämophilie B. Etwa 70 Prozent der Kranken mit Hämophilie A leiden unter der schwersten Form der Krankheit. Sie haben eine Restaktivität des Faktors VIII von unter einem Prozent. Die anderen beiden Schweregrade: mittelschwer mit einer Restaktivität von 1 bis 5 Prozent, leicht mit einer Restaktivität von 5 bis 25 Prozent.

Im Schnitt kommt es zu 35 spontanen Blutungen im Jahr

Besonders behindert sind die Patienten mit der schweren Form der Hämophilie. Bei ihnen kommt es in ganz normalen Alltagssituationen ohne stärkere äußere Einwirkungen zu spontanen Einblutungen, im Schnitt 35 Blutungen im Jahr. Gerade für sie ist eine Therapie nötig, bei der der Faktor VIII vorbeugend gespritzt wird, also nicht erst bei Bedarf, wenn es schon zu einer Blutung gekommen ist. Das aber bedeutet bei den bisher vorhandenen Präparaten: jeden zweiten Tag eine Spritze. Faktor VIII wird schnell abgebaut. Die Spritze kann sich der Patient zwar selbst geben, wie es auch ein Typ-1-Diabetiker tut, aber das ganze Procedere ist komplizierter: Der Patient muss die Infusionslösung herstellen und sich einen intravenösen Zugang legen.

Das wird den Kranken zwar durch ausgeklügelte technische Systeme erleichtert. Bayer Vital zum Beispiel liefert sein gentechnisch hergestelltes Faktor-VIII-Präparat Kogenate® mit einem Fertig-Set aus, das aus einer Flasche mit pulverisiertem Faktor VIII, einer mit Wasser für Injektionszwecke gefüllten Spritze, einem Venenpunktionsbesteck, Trockentupfer, Alkoholtupfer und einem Pflaster besteht. Aber das Verfahren muss doch sorgfältig gelernt werden.

Und es ist nicht ganz billig. Die Behandlung der 4000 Hämophilie-AKranken, von denen die meisten noch nicht einmal eine prophylaktische Therapie bekommen, kostet etwa 450 Millionen Euro jährlich.

Dabei ist die prophylaktische Therapie im Vergleich zur Therapie bei Bedarf von großem Vorteil, und das besonders für Kinder. Denn gerade in der Wachstumsphase entstehen durch spontane Einblutungen starke und anhaltende Gelenkschäden.

Wie groß der Nutzen der prophylaktischen Gabe von Faktor VIII sein kann, ist im vergangenen Jahr mit der Joint-Outcome-Study (JOS) herausgefunden worden, einer prospektiven und randomisierten Studie mit 65 Jungen im Alter zwischen sechs und 30 Monaten an 15 Hämophilie-Zentren in den USA. Die Bayer HealthCare AG, die in Berkeley in Kalifornien eine große Forschungseinrichtung unterhält, hatte ihr Faktor-VIII-Präparat, das auch in Berkeley entdeckt worden ist, zur Verfügung gestellt. Bezahlt wurde die Studie unter anderem von staatlichen Organisationen in den USA.

Die Kinder, die entweder vorbeugend jeden zweiten Tag eine Spritze mit dem Präparat oder eben erst dann das Mittel bekamen, wenn es zu einer Blutung gekommen war, wurden bis zu ihrem sechsten Lebensjahr beobachtet. Ergebnis: Kinder mit prophylaktischer Therapie hatten signifikant weniger Gelenkblutungen und somit auch weniger Knochen- oder Knorpelschäden. Das Risiko für solche Schäden, die mit Magnetresonanztomografie festgestellt wurden, war in der Prophylaxe-Gruppe um relativ 84 Prozent geringer. Hier hatten am Ende der Studie 93 Prozent der Kinder normale Gelenke, in der anderen Gruppe dagegen waren es nur 58 Prozent.

Aber jeden zweiten Tag eine Infusion? Weniger belastend und auch preisgünstiger würde eine Therapie sein, bei der der Gerinnungsfaktor nicht so oft gegeben werden muss. An solchen Präparaten forschen die Hersteller von Faktor-VIII-Arzneimitteln. Bayer etwa hat, wie der Leiter der präklinischen Entwicklungsabteilung in Berkeley, Dr. Glenn Pierce, bei einer Tagung Ende letzten Jahres mitgeteilt hat, ein Medikament mit einer Sonderform des Kogenate® schon in Phase-II-Studien erprobt. Mit Erfolg. Wenn die jetzt nötigen Phase-III-Studien die ersten Ergebnisse bestätigen, dann könnte in Zukunft eine Infusion pro Woche ausreichen. Für Patienten ein großer Fortschritt. Nach Angaben von Pierce könnte solch ein Medikament in etwa sechs Jahren auf dem Markt sein.

Das defekte Gen sitzt auf dem X-Chromosom

Noch besser allerdings würde eine Therapie sein, bei der die Krankheit beseitigt und der Patient komplett geheilt werden kann. Das würde nur mit einer Gentherapie möglich sein, die allerdings bei Hämophilie-Kranken naheliegt. Denn Hämophilie ist eine Krankheit, deren Ursache eindeutig ist: Ein defektes Gen auf dem X-Chromosom. Dass Frauen in der Regel nicht unter einer Hämophilie A leiden, liegt daran, dass sie zwei X-Chromosomen haben. Fällt das Gerinnungsfaktor-Gen auf dem einen X aus, übernimmt das Gen auf dem anderen die Aufgabe. Bei Männern mit nur einem X-Chromosom führt ein Ausfall des Gens unheilbar zu der Krankheit.

Wenn es also gelänge, das Gen zu reparieren, würde die Leber den Gerinnungsfaktor produzieren, und der Patient würde geheilt sein. Auch dieser Weg wird bereits seit Langem erforscht. Bei mehr als 40 Freiwilligen hat es schon solche Gentherapie-Versuche gegeben.

Über eine Virusfähre ist versucht worden, das Gen für den Faktor VIII einzuschleusen. Klare Erfolgsmeldungen liegen noch nicht vor, aber Pierce ist zuversichtlich: Erst einmal komme zwar das lang wirkende Kogenate®, sagt er, aber die nächste Generation werde dann schon die Gentherapie sein.



STICHWORT

Hämophilie

Die Bluterkrankheit Hämophilie wird gelegentlich als königliche Krankheit bezeichnet, weil Nachkommen von Englands Königin Victoria (1819 - 1901) die Krankheit in Adelshäusern Europas verbreitet haben.

Victoria war Trägerin des defekten Gens auf dem X-Chromosom, das für die Produktion etwa des Gerinnungsfaktors VIII in der Leber sorgt. Wird dieses Eiweiß nicht oder in zu geringen Mengen produziert (das gilt auch für andere Gerinnungsfaktoren), können Blutungen nur schwer gestillt werden.

Am weitesten verbreitet ist die Hämophilie A, die durch einen Mangel an Faktor VIII entsteht. Bei der Hämophilie B herrscht ein Mangel an Faktor IX. Beide Krankheiten sind X-chromosomal rezessiv erblich. Statistisch ist ein Junge von 5000 neugeborenen Jungen Hämophilie-A-krank. Die Hämophilie kann allerdings auch durch spontane Mutationen entstehen. Bei etwa einem Drittel der Patienten ist die Krankheit darauf zurückzuführen. Weltweit haben nach Schätzungen 400 000 Menschen eine Hämophilie.

Seit Mitte der 60er Jahre konnten Patienten erstmals wirkungsvoll behandelt werden, und zwar mit Derivaten aus Blutplasma, die den fehlenden Gerinnungsfaktor enthielten. Da die Derivate bis Mitte der 80er Jahre nicht ausreichend von Viren gereinigt wurden, wurden weltweit Hämophilie-Patienten mit HIV und dem Erreger der Hepatitis C infiziert. Allein in Deutschland wurden mehr als 4000 Patienten infiziert, etwa 1500 Patienten davon mit HIV, mehr als 1000 dieser Patienten sind inzwischen gestorben.

Heute sind Plasma-Medikamente weitgehend sicher. Seit etwa zehn Jahren gibt es aber gentechnisch hergestellte Faktor-VIII-Präparate, bei denen das Infektionsrisiko praktisch gleich Null ist. (HR)

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