Mitochondrienspende

Ein Experiment mit ungewissem Ausgang

In Großbritannien ist die gesetzlich geregelte Zulassung der Mitochondrienspende nicht mehr fern. Aber niemand kann negative Folgen für die Kinder - und deren Kinder - vollkommen ausschließen.

Peter LeinerVon Peter Leiner Veröffentlicht:
Körperzelle im Modell: Diese enthalten meist einige tausend Mitochondrien und Eizellen sogar einige hunderttausend der Organellen.

Körperzelle im Modell: Diese enthalten meist einige tausend Mitochondrien und Eizellen sogar einige hunderttausend der Organellen.

© Andrea Danti / fotolia.com

LONDON. Was defekt ist, wird ausgetauscht. Und was mit kompletten Organen wie dem Herzen möglich ist, sollte auch auf subzellulärer Ebene realisierbar sein - denken sich sicher Befürworter einer neuen Strategie, Mitochondriopathien bei Nachkommen zu vermeiden.

 Bei diesen Erkrankungen können fast alle Organsysteme - vor allem energiehungrige Muskeln und das Gehirn - von Störungen des mitochondrialen Stoffwechsels aufgrund von Mutationen im Genom der Zellorganellen betroffen sein.

Für die Methode hat am vergangenen Dienstag - wie berichtet - mit einer Mehrheit von 382 zu 128 Stimmen das britische Unterhaus gestimmt und somit den Weg für die Legalisierung - erstmals weltweit - freigemacht.

Bei dem umstrittenen Verfahren wird die mütterliche und väterliche Zellkern-DNA nach einer künstlichen Befruchtung - im Vorkernstadium oder später in Form des Spindelapparates - in die zuvor entkernte befruchtete Eizelle einer gesunden Spenderin übertragen, sodass das sich entwickelnde Kind keine genetisch defekte mitochondriale DNA der erkrankten Mutter erhält, sondern ausschließlich die intakte Mitochondrien-DNA der Organellen der Spenderin.

Ein klarer Eingriff in die Keimbahn: Das genetische Material der Mitochondrien der gesunden Spenderin wird auch an die weiblichen Folgegenerationen weitergegeben. Letztlich ähnelt die Technik dem Verfahren, mit dem das Klonschaf Dolly geschaffen wurde.

Kritiker unter den Wissenschaftlern pochen darauf, in der Debatte den korrekten Begriff zu verwenden: Kerntransfer statt etwa Mitochondrienspende.

Es gibt keine Garantie für den Erfolg

Dass dieser Ansatz zur Vermeidung einer Mitochondriopathie gänzlich ohne Folgen für die so "erzeugten" Kinder bleibt, kann niemand garantieren. Bisher gibt es mit dieser Technik nur Erfahrungen aus Tierversuchen.

Dagegen sind bereits mehrere Kinder nach einer In-vitro-Fertilisation (IVF) zur Welt gekommen, bei der jeweils in die befruchtete Eizelle Ooplasma einer gesunden Spenderin injiziert worden war.

Die erste Geburt nach einer solchen Variante der künstlichen Befruchtung erfolgte bereits 1997. Bis 2002 waren es allein in den USA 25 Kinder, die mit dieser Variante gezeugt wurden.

Wegen der Risiken etwa für ein Turner-Syndrom verlangt die Arzneimittelbehörde FDA seitdem vor der weiteren Anwendung des Ooplasma-Transfers klinische Studien. Sie lehnt derzeit auch die Mitochondrienspende ab.

Die Befürworter der in Großbritannien favorisierten und in Deutschland verbotenen Mitochondrien-Spende betonen unter anderem, dass das Erbgut des "dritten Elternteils" in den Mitochondrien keinen Einfluss auf das Erbgut des neuen Zellkerns hat.

Durch die reproduktionsmedizinische Technik könne Patientinnen mit der Anlage zu Mitochondriopathien zu gesunden eigenen Kindern verholfen werden.

Die Inzidenz mitochondrialer Erkrankungen unterschiedlicher Ausprägung liegt Schätzungen zufolge bei 1 zu 5000 bis 10.000 Neugeborenen. Die britische Überwachungs-Behörde HFEA (Human Fertilisation and Embryology AUTHORity) schätzt, dass die Inzidenz bei 1 zu 6500 Neugeborenen liegt.

In Großbritannien geht man davon aus, dass von den Ehepaaren, die sich für diese Variante der IVF interessieren, anfangs nur etwa zehn pro Jahr die neue Befruchtungsmethode nutzen werden.

Weltweiter Konsens: Keine Keimbahntherapie!

Kritiker der Mitochondrienspende halten dagegen, dass es sehr wohl ein "Zwiegespräch" zwischen den beiden DNA-Arten gibt. Experimentell belegt ist dies zum Beispiel bei der Bäckerhefe, bei Fadenwürmern, aber auch bei Mäusen und bei Fibroblasten von Menschen (Biochimica et Biophysica Acta 1833 (2013): 400-409).

Je mehr sich eine Dysfunktion von Mitochondrien anbahnt, um so "lauter" wird das Zwiegespräch zwischen der DNA der Organelle und des Zellkerns, indem Genfunktionen im Zellkern beeinflusst werden.

Auch wegen der Möglichkeit, bewusst oder unbewusst das genetische Material während der Mitochondrienspende - also beim Übertragen des Erbguts bereits im Vorkernstadium oder des Spindelapparates - zu manipulieren, ist diese Variante der künstlichen Befruchtung abzulehnen.

Nicht zuletzt die Weitergabe der mitochondrialen Gene der Spenderin an nachfolgende Generationen ist ein Argument gegen diese reproduktionsmedizinische Strategie. Oder ist der weltweite Konsens "Keine Keimbahntherapie!" bereits aufgekündigt?

Selbst wenn diese Form der Prävention von Mitochondriopathien kein Sicherheitsrisiko darstellen würde, bliebe immer noch die Frage, welche gesellschaftliche Stellung das Kind und die Eizellspenderin zueinander haben.

Ist die Spenderin nur die Lieferantin von unversehrten Mitochondrien? Ist sie die zweite Mutter? Wie wird das familiäre Verhältnis zueinander einzustufen sein, wenn sich eines Tages herausstellen sollte, dass die Wechselwirkung zwischen mitochondrialer und Zellkern-DNA doch viel größer ist als bisher gedacht?

Die Unsicherheiten dieser neuen Technik sind so groß, dass jede Mitochondrienspende ein Experiment mit ungewissem Ausgang ist, das sich auch auf künftige Generationen auswirken kann. Und das darf man keinem Kind aufbürden.

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