Phytopharmaka in Leitlinien

Ambivalente Bewertungen

Pflanzliche Arzneimittel sind in einigen Indikationen eine Alternative zu chemisch definierten Mitteln oder können entsprechende Behandlungen ergänzen. Mehr und mehr werden Phytotherapeutika in Leitlinien erwähnt.

Dr. Thomas MeißnerVon Dr. Thomas Meißner Veröffentlicht:
Mal links, mal rechts: In sieben Leitlinien gab es unklare oder negative Empfehlungen.

Mal links, mal rechts: In sieben Leitlinien gab es unklare oder negative Empfehlungen.

© FoxPictures/shutterstock.com

70 Prozent der Deutschen halten Naturheilmittel und Phytopharmaka in der Gesundheitsvorsorge für wichtig - ein Umstand, der womöglich dazu beiträgt, dass auch unter Schulmedizinern ein Umdenken eingesetzt hat.

Für viele niedergelassene Ärzte sind Naturheilverfahren längst Teil der täglichen Arbeit, immer mehr Universitäten richten Lehrstühle für Naturheilverfahren ein und das Thema ist inzwischen Teil der Approbations- und der Weiterbildungsordnung.

"Vertreter der Naturheilkunde und konventionelle Mediziner bewegen sich langsam aufeinander zu", konstatiert Professor Karin Kraft, Internistin und Inhaberin des Lehrstuhls für Naturheilkunde der Universität Rostock. Der Umgang mit komplementärmedizinischen Methoden sei rationaler geworden, meint Kraft.

Das gilt besonders für die Phytotherapie, deren Anwendung in manchen Indikationen wie einfachen Atemwegsinfektionen oder benigner Prostatahyperplasie durchaus am Anfang stehen kann; bei anderen sind sie eine gute Ergänzung zu chemisch definierten Arzneimitteln.

International ist zu beobachten, dass versucht wird, mit gut konzipierten Studien phytopharmakologische Konzepte auf ein hohes Evidenzniveau zu heben. Die Europäische Arzneimittelagentur EMA erstellt seit einiger Zeit Monographien zu pflanzlichen Drogen.

In den USA fördert der Staat jährlich Forschungsprojekte mit dreistelligen Millionenbeträgen. Auch in Kanada, China oder Indien besinnt man sich auf alte Therapieformen und versucht, sie in das heutige medizinische Wissen zu integrieren.

Zunehmend Hinweise auf Phytos

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So verwundert es nicht, wenn sich auch in medizinischen Leitlinien deutschsprachiger Fachgesellschaften zunehmend Hinweise auf Phytopharmaka finden, wenngleich es insgesamt noch wenige sind.

Ob die Gewichtung der Therapie mit pflanzlichen Mitteln im Vergleich der Behandlungsmethoden immer fair gehandhabt wird, steht allerdings auf einem anderen Blatt. Kraft, die auch Präsidentin der Gesellschaft für Phytotherapie (GPT) ist, merkt an, dass in den Leitlinien-Gremien oft Experten fehlten, die sich tatsächlich mit Phytotherapeutika auskennen würden.

Sie befasst sich unter anderem regelmäßig mit dem Stellenwert von Phytotherapeutika in AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften)-Leitlinien.

Im Jahre 2012 waren demnach in lediglich 17 von insgesamt 101 S3-Leitlinien Hinweise auf phytotherapeutische Optionen zu finden, davon fünfmal mit einem hohen bis sehr hohen Empfehlungsgrad, in sieben Leitlinien gab es unklare oder negative Empfehlungen. Kraft kritisiert, dass die Aussagen oft auf veralteten Studien basierten und unerwünschte Wirkungen unkritisch dargestellt würden (Z Phytother 2012; 33: V06).

Phytos bei Erkältung beliebt

Traditionell sind Phytotherapeutika etwa bei Atemwegserkrankungen, speziell bei Erkältungskrankheiten beliebt. In erster Linie geht es darum, den teilweise erheblichen Leidensdruck der Patienten zu reduzieren, die entsprechende Symptomatik zu lindern.

Einer Krankheitsverschleppung und Chronifizierung kann vorgebeugt und unnötige Antibiotika-Therapien lassen sich vermeiden.

In der Rhinosinusitis-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie wird etwa auf die abschwellende Wirkung des Myrtols hingewiesen.

Die klinisch angenommene pharmakologische Steigerung der mukoziliären Clearance sei experimentell bestätigt worden, heißt es dort. Zudem bestünden "Hinweise für symptomlindernde und kurative Wirkungen von Myrtol und Cineol."

Bei akuter bakterieller Rhinosinusitis ließen sich mit einer Primelmischung zusätzlich zur antibiotischen Therapie und abschwellenden Nasentropfen additive Behandlungseffekte erzielen. Zitiert werden des Weiteren positive Studienresultate für Pelargonium siduoides und für das Ananasenzym Bromelain.

Auch ein umfangreiches europäisches Positionspapier zur Rhinosinusitis und zu Nasenpolypen widmet sich in einem Kapitel der Datenlage zu pflanzlichen Wirkstoffen (Rhinology 2012; 50(12): 1-298).

Ebenso greifen seit langem viele Menschen zur Linderung des Hustens bei akuter Bronchitis zur Selbstmedikation mit pflanzlichen Mitteln. Die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie gibt in ihrer 2010 erschienenen Leitlinie eine "starke Empfehlung" für die Kombination Thymian, Efeu und Primel ab und verweist auf randomisierte kontrollierte Studien.

Aufgelistet werden zudem eine Reihe weiterer pflanzlicher Expektoranzien. In der Leitlinie der Deutschen Atemwegsliga werden Myrtol und Cineol zur Lösung viskösen Sekrets bei COPD zumindest erwähnt.

Daten zu Ginkgo biloba analysiert

Dagegen finden sich zum Beispiel in der AWMF-Leitlinie zur "Diagnostik und Therapie von Gedächtnisstörungen" keine Hinweise auf pflanzliche Optionen.

In der S3-Leitlinie "Demenzen" unter Federführung der deutschen Fachgesellschaften für Psychiatrie (DGPPN) und Neurologie (DGN) wird die aktuelle Datenlage zu Ginkgo biloba diskutiert, das allgemein bei kognitiven Störungen und Demenz angewendet wird.

Das IQWiG hatte in der hohen Dosierung des Extrakts einen Beleg für das Therapieziel "Aktivitäten des täglichen Lebens" gesehen und Autoren einer Metaanalyse des Cochrane-Instituts waren 2009 zu dem Schluss gekommen, dass Ginkgo nicht mehr Nebenwirkungen verursache als Placebo. Die Leitlinien-Autoren geben jedoch letztlich keine Empfehlung für Ginkgo-haltige Präparate ab.

Dabei haben erst kürzlich 20-Jahres-Daten der französischen Studie PAQUID weitere Hinweise darauf ergeben, dass sich bei Menschen über 65 Jahren das Fortschreiten der Hirnalterung verlangsamt, wenn ein Ginkgo-biloba-Spezialextrakt frühzeitig und über einen längeren Zeitraum in hoher Dosis eingenommen wird (PLoS ONE 8(1): e52755).

Und der Weltverband der Gesellschaften für Biologische Psychiatrie (WFSBP) weist darauf hin, dass man bei allen heute zur Verfügung stehenden Antidementiva lediglich moderate Verbesserungen der Situation erwarten kann und sieht hinsichtlich des therapeutischen Effekts letztlich eine Gleichwertigkeit von Ginkgo-biloba-Spezialextrakt EGb 761, Acetylcholinesterasehemmern und NMDA-Rezeptor-Modulatoren (World J Biol Psych 2011; 12: 2-32).

Gastroenterologie: nicht aktuell?

Ein weiteres Beispiel sind gastrointestinale Funktionsstörungen und Erkrankungen. Bereits 2009 hatte Professor Karin Kraft nach Auswertung verschiedener Leitlinien aus diesem Fachgebiet festgestellt, dass Phytotherapeutika allenfalls ausnahmsweise erwähnt würden, obwohl pflanzliche Drogen bei guter Verträglichkeit eine oft unmittelbar erfahrbare Wirkung zeitigten (Z Phytother 2009; 30(3):107-108).

So finden sich im Zusammenhang mit dem Parkinson-Syndrom und der unter Standardtherapie oft vorkommenden und sich oft noch verstärkenden Obstipation keine Hinweise auf gut verträgliche pflanzliche Mittel in entsprechenden Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie.

Dasselbe ist der Fall in den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselerkrankungen (DGVS) "Gastroösophageale Refluxkrankheit", "Helicobacter pylori und gastroduodenale Ulkuskrankheit" sowie "Diagnostik und Therapie von Gallensteinen": keine Empfehlungen zur Phytotherapie- alle drei Leitlinien sind abgelaufen und werden derzeit überprüft.

In der aktuell publizierten Leitlinie zur chronischen Obstipation werden zwar einige komplementärmedizinische Methoden aufgezählt, Hinweise auf Phytotherapie fehlen jedoch erneut (Z Gastroenterol 2013; 51: 651-672), obwohl dieselben Fachgesellschaften DGVS und Deutsche Gesellschaft für Neurogastroenterologie und Motilität (DGNM) an anderer Stelle phytotherapeutische Empfehlungen abgeben, nämlich beim Reizdarmsyndrom.

Immerhin handelt es sich um eine S3-Leitlinie zum Reizdarmsyndrom. Und Phytotherapeutika sind an verschiedenen Stellen berücksichtigt, so etwa Pfefferminzöl und Kümmelöl zur Therapie bei abdominellen Schmerzen sowie bei Stuhlunregelmäßigkeiten, etwa mit Einzel- und Kombinationsphytotherapeutika.

Bei RDS mit Obstipation wird ein Serotoninrezeptor-Agonist erst dann empfohlen, wenn Ballaststoffe, Phytopharmaka oder Probiotika nicht effektiv gewesen sind.

Hingewiesen wird des Weiteren auf das Phytopharmakon STW-5, einem Gemisch aus neun Pflanzenextrakten, das sich in einer deutschen Multicenterstudie bei RDS als effektiv erwiesen hat. Unter STW-5-Behandlung bessern sich bei vielen RDS-Patienten Beschwerden wie Blähungen, abdominelle Distension, Meteorismus und Flatulenz.

BPH: Phytos an erster Stelle

Milde prostatabedingte Miktionsbeschwerden beim Mann sind eine der am meisten verbreiteten Indikationen, um mit Phytopharmaka Besserung zu erreichen, besonders was ständigen Harndrang und Nykturie angeht.

In der zuletzt im Jahre 2009 überarbeiteten Leitlinie "Therapie des Benignen Prostatasyndroms (BPS)" der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU) sowie des Berufsverbands der Deutschen Urologen (BDU) finden sich unter "Medikamentöser Therapie" Phytotherapeutika gleich an erster Stelle. Erwähnt werden dort vor allem Extrakte aus Sägepalmfrüchten, Brennesselwurzeln, Kürbissamen und Roggenpollen sowie pflanzliche Kombinationspräparate.

In der aktuelleren Leitlinie der European Association of Urology (EAU) aus dem Jahr 2012 gibt es eine Übersicht pflanzlicher Präparate sowie die zugehörige Literatur zu dem Thema. Zwar vermeiden die Autoren jegliche Empfehlungen mit Verweis auf die Heterogenität der verfügbaren Produkte und methodische Probleme der publizierten Metaanalysen.

Ein wesentlicher Unterschied zu deutschen Leitlinien fällt jedoch auf: Es wird angegeben, von welchen Extrakten in den Studien zu Einzelpräparaten tatsächlich die Rede ist, es werden die Handelsnamen genannt.

"Extraktname gehört in die Leitlinie"

Das sei auch notwendig, meint der Pharmazeut Professor Theo Dingermann aus Frankfurt am Main. Zumindest die Angabe des Extraktnamens, für den zitierfähige Studien vorliegen, wäre wünschenswert. Denn jedes Phytopharmakon ist ein Unikat: Die Qualität der Arzneipflanze, der konkrete Herstellungsprozess sowie die Reproduzierbarkeit des definierten Extrakts seien für die Wirkungen sehr wichtig, so Dingermann. Pflanzliche Generika kann es daher nicht geben.

In deutschen Leitlinien dürfen jedoch bislang keine Produktnamen genannt werden. Das führt bei Erwähnung phytotherapeutischer Optionen zu praktisch wenig hilfreichen Hinweisen wie zum Beispiel in der Nationalen Versorgungsleitlinie "Unipolare Depression".

Dort wird auf eine Metaanalyse verwiesen, wonach Johanniskraut-Extrakte zur Therapie bei leichten und mittelgradigen Depressionen wirksam sind. Es sollten jedoch nur Präparate eingesetzt werden, "für die eine klinische Wirksamkeit durch eigene Studien belegt ist". Konkrete Hinweise auf solche Präparate fehlen.

Ähnliches findet man in der oben erwähnten Leitlinie bei akutem und chronischem Husten: "Ergebnisse aufwendiger Studien mit Phytopharmaka gelten ... nur für das getestete Präparat..."

Die Nutzer solcher Leitlinien müssten theoretisch nun also selbst noch Recherchearbeit leisten, wollen sie leitliniengerecht handeln, müssten sich die zitierten Studien besorgen, sie lesen und bewerten. Ein Aufwand, den die Experten der Leitlinienkommissionen bereits betrieben hatten und den Leitlinienleser, so sei hier unterstellt, doch eigentlich vermeiden möchten.

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