INTERVIEW

"Für die sublinguale Immuntherapie bei Pollenallergie haben wir jetzt viel bessere Daten"

Die subkutane Immuntherapie hat sich zur Behandlung von Patienten mit Pollenallergie längst etabliert. Auch zur sublingualen Therapie, etwa mit Tropfen oder Tabletten, gibt es mittlerweile überzeugende Studiendaten. "Besonders für Patienten mit Abneigung vor Spritzen und für solche mit wenig Zeit für Arztbesuche ist sie eine gute Option zur Desensibilisierung", sagt der Berliner Allergologe und Hautarzt Privatdozent Jörg Kleine-Tebbe im Gespräch mit Ingrid Kreutz von der "Ärzte Zeitung".

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"Auch bei KHK-Patienten ist die sublinguale Immuntherapie möglich."

Ärzte Zeitung: Zur sublingualen Immuntherapie (SLIT) bei der Pollenallergie sind in den letzten Jahren viele neue Studiendaten hinzugekommen. Ist die SLIT denn mittlerweile eine echte Alternative zur klassischen subkutanen Immuntherapie (SCIT)?

Privatdozent Jörg Kleine-Tebbe: Besonders zur SLIT bei Gräserpollen-Allergie haben wir jetzt viel bessere und umfangreichere Daten als früher. Insgesamt drei große Studien sind in den vergangenen Jahren mit Sublingual-Tabletten bei Patienten mit Gräserpollen-Allergie gemacht worden. In allen Studien wurde eine ähnlich gute Wirksamkeit erzielt, und zwar eine Wirksamkeit, die sich sehen lassen kann. Die Symptome und der Verbrauch an Medikamenten wie Antihistaminika werden deutlich verringert. Auch zur Baumpollen-Allergie gegen Birke, Hasel und Erle gibt es überzeugende Studiendaten mit der SLIT, und zwar in Tropfenform. Im Gegensatz zur SCIT haben wir zur SLIT aber immer noch keine ausreichenden Daten zur Langzeitwirkung. Daher ist die SLIT derzeit noch kein Ersatz für die subkutane Behandlung. Es fehlt zur SLIT außerdem auch noch der Nachweis, dass sie vor Asthma und Neusensibilisierungen schützt. Und es gibt noch nicht genügend Studiendaten bei Kindern.

Ärzte Zeitung: Die SLIT galt bisher als sicherer im Vergleich zur SCIT, was schwere unerwünschte systemische Wirkungen betrifft. Hat sich dies in den neuen Studien bestätigt?

Kleine-Tebbe: Im Prinzip ja. Ein Problem bei der SLIT ist aber, dass wir die dazu verwendeten Präparate nach neuen Erkenntnissen recht hoch dosieren müssen, um eine gute Wirksamkeit zu erzielen. Aber je höher wir dosieren, desto höher ist auch das Risiko für unerwünschte Wirkungen. So können bei hochdosierten Präparaten 50 bis 60 Prozent der Patienten unerwünschte lokale Wirkungen zu Beginn der Therapie entwickeln wie Juckreiz in der Mundhöhle, Kratzen im Hals oder leichte Zungenschwellung (orales Allergiesyndrom). Es sind auch leichte systemische Nebenwirkungen beobachtet worden, etwa eine leichte Urtikaria oder ein leichter Asthma-Anfall. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass es mit der SLIT auch mal zu einer stärkeren systemischen Reaktion kommt, aber dieses Risiko ist mit Sicherheit wesentlich geringer als bei der subkutanen Therapie. Da die SLIT zu Hause von den Patienten selbst angewandt wird, muss diese natürlich auch sicherer sein als die SCIT.

Ärzte Zeitung: Gibt es bei der SLIT auch weniger Kontraindikationen als bei der subkutanen Therapie?

Ein Allergenextrakt wird subkutan gespritzt. Die Alternativen: Tropfen und Tabletten sublingual.

Ein Allergenextrakt wird subkutan gespritzt. Die Alternativen: Tropfen und Tabletten sublingual.

© Foto: Kleine-Tebbe

Kleine-Tebbe: Ja, bei der SLIT ist zum Beispiel die Behandlung mit einem Beta-Blocker keine Kontraindikation. Denn damit sind bei der SLIT bisher keine schweren unerwünschten Reaktionen dokumentiert. Auch bei Patienten mit KHK oder anderen Herzerkrankungen ist eine SLIT nicht kontraindiziert, da hier die Wahrscheinlichkeit, dass wir wegen einer schweren anaphylaktischen Reaktion Adrenalin einsetzen müssen, noch geringer ist als bei einer SCIT. Kontraindikationen für eine SLIT sind jedoch wie bei der SCIT schwere Autoimmunerkrankungen wie ein systemischer Lupus erythematodes oder eine nicht länger als fünf Jahre zurückliegende Krebserkrankung. Auch Patienten mit unzureichend kontrolliertem Asthma und einer Einsekundenkapazität von weniger als 70 Prozent des Sollwertes trotz Pharmakotherapie sollten keine SLIT erhalten.

Ärzte Zeitung: Für welche Patienten kommt die SLIT derzeit am ehesten infrage?

Kleine-Tebbe: Besonders für Patienten, die aus beruflichen oder privaten Gründen zu wenig Zeit für die bei der subkutanen Therapie notwendigen Arztbesuche haben. Aber auch für Patienten mit starker Abneigung gegen Spritzen ist die SLIT eine gute Option. Kollegen, die eine SLIT verordnen, sollten jedoch überzeugt sein, dass die Patienten eine gute Compliance haben, zumal die Behandlung mehr kostet als die subkutane Therapie. Die Patienten sollten wenigstens alle drei Monate einbestellt werden, um den Therapieverlauf beurteilen zu können.

Infos zur spezifischen Immuntherapie unter www.allergo-journal.de/pdf/107599.pdf und in der Fachzeitschrift "Allergo Journal" (16, 2007, 492).

Zur Person

Privatdozent Jörg Kleine-Tebbe ist am Allergie- und Asthma-Zentrum Westend in Berlin tätig; er hat an Leitlinien zur Allergiediagnostik und -therapie mitgewirkt.

STICHWORT

Spezifische Immuntherapie

Bei der spezifischen Immuntherapie (Desensibilisierung) ist die subkutane Immuntherapie (SCIT) mit wässrigen Allergenen oder Allergoiden nach wie vor der Standard. Bei der klassischen Form beginnt im Herbst eine etwa achtwöchige Aufsättigungsphase, gefolgt von einer Erhaltungstherapie in vier- bis sechswöchigen Abständen über drei Jahre. Die Dosierung richtet sich nach dem Präparat. Eine weitere Option ist die Kurzzeit-SCIT. Je nach Extrakt werden vier bis acht Injektionen präsaisonal empfohlen. Experten empfehlen dies vor allem für Patienten, denen die klassische Immuntherapie zu lange dauert. Bei der sublingualen Therapie (SLIT) wird das Medikament unter die Zunge geträufelt oder eine Tablette unter die Zunge gelegt. Deren Wirksamkeit ist bei Birken- und Gräserpollenallergie bereits recht gut belegt. (ikr)

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