Interview zur Naturheilkunde

"Wir haben noch Nachholbedarf"

Naturheilkunde und konventionelle Medizin bewegen sich aufeinander zu. Komplementärmedizin wird zunehmend ernst genommen. Doch es gibt noch viele Baustellen. Welche das sind, erklärt Professor Karin Kraft von der Uni Rostock im Interview.

Dr. Thomas MeißnerVon Dr. Thomas Meißner Veröffentlicht:
Mehrere Substanzen eines Phytopharmakons können additive oder überadditive Effekte haben.

Mehrere Substanzen eines Phytopharmakons können additive oder überadditive Effekte haben.

© iStockphoto / Thinkstock

Ärzte Zeitung: Frau Professor Kraft, Sie widmen sich seit mehr als zwei Jahrzehnten dem Thema Naturheilkunde. Wie hat sich das Interesse von Ärztinnen und Ärzten daran in dieser Zeit entwickelt?

Professor Karin Kraft

Position: Seit 2002 Inhaberin des Lehrstuhls für Naturheilkunde an der medizinischen Fakultät der Uni Rostock, Präsidentin der Gesellschaft für Phytotherapie (GPT).

Werdegang: Nach Abschluss des Medizinstudiums 1980 und Promotion Arbeit als Stipendiatin am Institut für Klinische Biochemie der Uni Bonn und am Pharmakologischen Institut der Uni Heidelberg sowie Assistenzärztin an der Uniklinik Bonn. 1989 Anerkennung als Ärztin für Innere Medizin.

Karriere: Ab 1991 Vorlesungen zu Naturheilverfahren an der Uni Bonn, 1992 Oberärztin der Medizinischen Poliklinik in Bonn, dort Einrichtung der Ambulanz für Naturheilverfahren. 1993 Habilitation im Fach Innere Medizin.

Seit 1994 Mitglied der Kommission E am BfArM, seit 2000 Supervising Editor der ESCOP (European Scientific Cooperative on Phytotherapy).

Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Phytotherapie und naturheilkundliche Methoden, Versorgungsforschung in der naturheilkundlichen Rehabilitation.

Professor Karin Kraft: Nach meinem Eindruck ist der Bezug zur Naturheilkunde im Vergleich zu früher rationaler geworden. Wir haben in Deutschland in den vergangenen Jahren einige komplementärmedizinische Lehrstühle hinzu bekommen, die meines Wissens allerdings alle drittmittelfinanziert sind.

Komplementärmedizin wird im konventionellen Medizinbetrieb zunehmend wahr- und ernst genommen. Das ist sicher auch den mehr als 40.000 Publikationen auf dem Feld und einer Reihe von Cochrane-Reviews geschuldet sowie den Wünschen vieler Patienten, die sich heute sehr einfach über diese Dinge informieren können. Ich würde also sagen: Vertreter der Naturheilkunde und konventionelle Mediziner bewegen sich langsam aufeinander zu.

International wird dieser Prozess unterstützt. In den USA zum Beispiel geht man mittlerweile ganz selbstverständlich mit der Komplementärmedizin um, auch in China oder Indien. Da haben wir in Europa noch einen Nachholbedarf.

Auch in den USA hat es ja eine solche Entwicklung gegeben, schaut man ein paar Jahrzehnte zurück...

Professor Karin Kraft: Das ist richtig. Viele Menschen waren dort nicht krankenversichert und haben im Krankheitsfall auf preisgünstige komplementärmedizinische Angebote zurückgegriffen.

Deshalb sahen die National Institutes of Health (NIH) die Notwendigkeit, diese naturheilkundlichen Methoden vor allem unter Sicherheitsaspekten intensiv zu untersuchen. In der Folge hat man 24 Lehrstühle an medizinischen Fakultäten eingerichtet, finanziert von den NIH.

Somit werden dort auch Forschungsaufgaben wahrgenommen, mit staatlichen Fördergeldern von inzwischen jährlich etwa 128 Millionen US-Dollar.

Sehen Sie solche Entwicklungen auch bei uns?

Professor Karin Kraft: Was die Phytotherapie angeht, wird deren Sicherheit seit vielen Jahren vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte und neuerdings auch von der Europäischen Arzneimittelagentur EMA intensiv geprüft.

Die EMA erstellt Monographien zu verschiedenen pflanzlichen Drogen. Dieses Projekt ist bereits recht weit fortgeschritten und auf der EMAHomepage nachzuverfolgen.

Es gibt ja hierzulande einen Trend zu Wellness und Medical Wellness - wie stehen Sie dem gegenüber?

Professor Karin Kraft: Die Qualität, die man bei einer naturheilkundlichen Anwendung erwartet, ist bei Wellness leider nicht immer gegeben. Problematisch ist zudem, wenn ein Verfahren nur einmalig angewendet wird, obwohl bekannt ist, dass eine serielle und individuell abgestufte Anwendung in der Naturheilkunde erforderlich ist.

Das können solche Wellness-Einrichtungen oft nicht gewährleisten. Auch werden mehrere Methoden gleichzeitig angewendet, die eigentlich nicht miteinander kompatibel sind oder medizinisch nicht hinterfragt werden. So kann es vorkommen, dass Gäste unmittelbar nach einem Bad eine intensive Trainingsmaßnahme absolvieren sollen.

Auf der anderen Seite: Werden naturheilkundliche Verfahren in guter Qualität angeboten, und das gibt es auch, kann der Patient diese kennen lernen und erste Erfahrungen damit machen.

Was sagen Sie zur Diskussion um Wirksamkeitsnachweise in der Pflanzenheilkunde?

Professor Karin Kraft: Prinzipiell kann man Phytotherapeutika mit denselben Maßstäben prüfen wie chemisch definierte Arzneimittel. Allerdings sind Wirksamkeitsnachweise für Phytotherapeutika durchaus schwieriger zu führen.

Mehrere Substanzen eines Phytopharmakons können additive oder überadditive Effekte haben oder Effekte einzelner Bestandteile können sich gegenseitig aufheben. Ein breites Wirkspektrum bei niedriger Rate unerwünschter Wirkungen ist in dieser Hinsicht manchmal schwer zu erklären.

Pharmakologen finden die Modelle zu Wirkungen pflanzlicher Arzneimittel jedoch zunehmend interessant und betreiben aktive Forschung an pflanzlichen Extrakten.

Wie realistisch ist es denn, eine statistisch aussagekräftige Studie zu einem spezifischen Extrakt oder gar Vergleichsstudien zwischen Extrakten der gleichen Droge zu bekommen vor dem Hintergrund, dass Phytopharmaka-Hersteller im Allgemeinen keine weltweit agierenden Konzerne, sondern mittelständische Unternehmen sind?

Professor Karin Kraft: Das ist ein wichtiger Punkt. Wir müssen dahin kommen, dass Arzneimittelforschung teilweise auch wieder staatlich finanziert wird. Immer wieder werden etablierte, chemisch definierte Mittel vom Markt genommen, weil sich in großen und in anderen Ländern staatlich finanzierten Studien Sicherheitsprobleme gezeigt haben.

Dadurch verlieren wir allmählich therapeutisches Potenzial. Ich würde es sehr begrüßen, dass pflanzliche Medikamente, deren Nebenwirkungsraten ganz offensichtlich gering sind und bei denen es gute Hinweise auf eine Wirksamkeit gibt, in großen, mit öffentlichen Mitteln geförderten Studien geprüft werden.

Wir müssen uns zudem fragen, ob es gerechtfertigt ist, einem Patienten, der keine gute chemisch definierte Arzneimittelalternative hat oder allenfalls eine Substanz mit erheblichem Nebenwirkungsspektrum, ein Phytotherapeutikum vorzuenthalten, weil es wegen fehlender finanzieller Mittel nicht ausreichend klinisch geprüft werden konnte.

Wie schätzen Sie denn die Phytotherapie-Forschung in Deutschland ein?

Professor Karin Kraft: Es ist manchmal durchaus schwierig ärztliche Kooperationspartner zu finden. Hinzu kommt: Eine Forscherinitiierte Studie ohne logistische Unterstützung durch die Industrie oder andere Institutionen zu konzipieren und durchzuführen, ist besonders nach dem aktuellen Arzneimittelgesetz kaum noch machbar.

Der erhebliche Aufwand ist allein und zum Beispiel durch einen durch Stiftungen finanzierten Lehrstuhl einfach nicht zu bewältigen. Das geht übrigens Kollegen, die unabhängige Prüfungen mit chemisch definierten Arzneimitteln vornehmen wollen, ganz genauso.

Hier muss der Gesetzgeber unbedingt etwas ändern, um primär wissenschaftsgetriebene Forschung zu fördern. Die heutigen gesetzlichen Rahmenbedingungen strangulieren eher die unabhängige Arzneimittelforschung als dass sie sie fördern.

An welchen Projekten zur Phytotherapie arbeiten Sie derzeit mit?

Professor Karin Kraft: Innerhalb der Kooperation Phytopharmaka GbR in Bonn befassen wir uns in einer interdisziplinären Arbeitsgruppe zum Beispiel damit, Fehler in Publikationen, zum Beispiel zu phytotherapeutischen Wirkprinzipien, durch Gegenpublikationen auszuräumen.

Denn leider werden immer wieder Dinge zur Phytotherapie veröffentlicht, die sachlich nicht richtig sind und die auf Vorurteilen beruhen. Wir wollen daher Transparenz herstellen. Die Kooperation nimmt des Weiteren Stellung zu neueren Monographien der EMA und arbeitet dem BfArM bei der Bewertung von Phytotherapeutika zu.

Unter www.koop-phyto.org gibt es Informationen sowohl für Fachkreise als auch Ratgeberseiten für Verbraucher.

Sie haben untersucht, inwiefern Phytotherapeutika in deutschsprachigen Leitlinien vertreten sind. Wird denn fair mit dem Thema umgegangen?

Professor Karin Kraft: Ich denke schon, dass man sich in den Gremien mit der wissenschaftlichen Literatur zu Phytotherapeutika auseinandersetzt. Nur wäre es zu begrüßen, wenn im Vergleich der Therapiemethoden immer gleiche Maßstäbe angelegt würden.

Solange die Vertreter der Phytotherapie oder Naturheilkunde in den Leitlinien-Gremien nicht oder nur gelegentlich vertreten sind, kann man nicht erwarten, dass diese Verfahren kompetent bewertet werden können.

Es wird beklagt, dass die Naturheilkunde in der medizinischen Aus- und Weiterbildung kaum existent ist. Ist das so?

Professor Karin Kraft: In der Approbationsordnung ist die Naturheilkunde im Querschnittsbereich 12 zusammen mit Rehabilitation und Physikalischer Therapie untergebracht. Allerdings wird der gesamte Querschnittsbereich nicht an jeder Universität gelehrt.

Das liegt zum Beispiel am Mangel qualifizierten Personals und Sparmaßnahmen an den Universitäten. In der ärztlichen Weiterbildung zum Arzt für Physikalische Medizin und Rehabilitation sollen naturheilkundliche Aspekte berücksichtigt werden. Hierbei liegt die Betonung jedoch leider oft auf erweiterten physiotherapeutischen Maßnahmen.

Frau Professor Kraft, nach Bundestagswahlen werden nicht selten Weichen gestellt für neue Entwicklungen. Was wünschen Sie sich in Bezug auf die Naturheilkunde?

Professor Karin Kraft: Ich wünsche mir, dass diese seit mehr als 150 Jahren in Deutschland etablierte Form der Medizin genauso behandelt wird wie neu entstandene Fächer. Die bestehenden Stiftungsprofessuren für Naturheilkunde müssen endlich verstetigt werden.

Dann könnten wir über viele Dinge sehr viel nüchterner reden als bislang. Der gegenwärtige Zustand ist eine Benachteiligung des Faches Naturheilkunde gegenüber anderen medizinischen Fachgebieten, die in der Approbationsordnung aufgeführt sind.

Auch würde ich mir wünschen, dass die staatlichen Forschungsförderungsinstrumente der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Bundesministeriums für Forschung und Technologie naturheilkundliche/komplementärmedizinische Projekte berücksichtigen.

Wir brauchen Chancengleichheit in der Forschung mit unseren kanadischen, US-amerikanischen, indischen oder auch chinesischen Kollegen.

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