Kunsttherapie kann bei dementen Patienten wahre Wunder wirken

Kunsttherapie im Altenheim fördert bei alten und bei dementen Patienten die Konzentration und unterstützt die Orientierungsfähigkeit. Gleichzeitig kann sie den im Alter eingeschränkten sozialen Austausch verbessern und Depressionen abbauen helfen, wie ein Beispiel aus der Praxis zeigt.

Von Helga Brettschneider Veröffentlicht:

Im Aufenthaltsraum ihres Frankfurter Pflegeheims sitzt Evelyn Marks* vor einem großen Blatt Papier. Es ist Maltherapiestunde, und sie überlegt, wie sie ihr Motiv umsetzen kann. 90 Minuten dauert der Kurs. Genauso lange konzentriert sich die Seniorin auf ihre Aufgabe. Das ist nicht ungewöhnlich - denn normalerweise bleibt sie keine fünf Minuten sitzen.

Der Grund: "Sie muß ständig zur Toilette und erzählt das auch jedem", erklärt Regina Pitzke, Kunsttherapeutin vom Therapeutikum in Frankfurt am Main. Während des Zeichnens dagegen verläßt sie ihren Tisch kein einziges Mal. Ohne Toilettengänge, ohne Mißgeschick. Danach ist alles wieder wie vorher, und die Fünf-Minuten-Unruhe hält Patientin und Umfeld wieder auf Trab. Der alten Dame und dem Pflegepersonal aber hat diese Zeit die dringend nötige Entspannung gegeben.

Kunsttherapie kann bei unruhigen Menschen die Konzentration fördern, berichtete Pitzke bei dem vom Frankfurter Arzneimittel-Hersteller Merz Pharmaceuticals geförderten Zukunftsforum Demenz in Schwelm. Pitzke betreut die Heimbewohner beim therapeutischen Malen. Einmal pro Woche nehmen sie an ihren Kursen teil, höchstens sechs pro Sitzung. Auch demente Patienten, die häufig von Unruhe geplagt werden. Die Therapie soll Lebensfreude und Orientierungsfähigkeit unterstützen. Bewohnern, die das noch selbst überblicken, liefert schon der feste wöchentliche Termin einen ersten zeitlichen Orientierungsrahmen.

Pitzkes Maltherapie ist anthroposophisch ausgerichtet. Deshalb steht für sie nicht die Analyse der Bilder im Vordergrund, sondern das Malen selbst soll den Patienten nützen. Sie achtet zum Beispiel auf Motiv- und Farbwahl. Rot wirkt anregend, Blau beruhigend, sagt sie. Bestimmte Themen wie Mond und Sterne beruhigen ebenfalls. Außerdem: "Sich an ein festes Motiv zu halten, kann auf leicht desorientierte Patienten orientierend wirken". Motive wiederum, die sich nach den Jahreszeiten richten - der pflügende Bauer im Frühjahr, Windmühlen im Herbst, Pflanzenstudien - erleichtern die zeitliche Einordnung und knüpfen an die Außenwelt an.

Das weckt auch Erinnerungen, die stille Zeitgenossen zum Erzählen verleiten können. Das ist erwünscht. Denn alte Menschen, besonders demente, haben oft Probleme mit der Kommunikation. Viele können sich nicht mehr in andere hineinversetzen und haben verlernt, aufeinander zuzugehen: "Da ist jeder auf seinem eigenen Stern", sagt die Therapeutin. "Das muß jemand ausgleichen, und dies geht beim Malen."

Viel Reden darf sie in ihren Kursen nicht - das würde die betagten Patienten durcheinander bringen. Ruhige und klare Vorgaben dagegen erleichtern ihnen den Überblick beim Zeichnen. Anschließend begutachten alle gemeinsam ihre Werke und lernen sich dabei kennen. Nach einiger Zeit merken sie schon am Stil, von wem welches Bild stammt: der mögliche Anfang einer Gemeinschaft.

Demente Patienten profitieren nach Pitzkes Erfahrung vor allem in frühen Stadien von der Maltherapie. Am besten, solange sie nur gelegentlich den Anschluß an die Gegenwart verlieren. Regelmäßige Kunsttherapie, so Pitzke, könne sogar Depressionen verbessern. Mit fortschreitender Demenz sinkt der Nutzen jedoch. Die Bilder zeigen die Entwicklung: Der Maler vergißt sein Thema, die Bilder werden starrer, die Farbwahl willkürlich, Details immer häufiger wiederholt. Letztlich dominieren Linien, manchmal auch "Schreib"-Bilder. Wenn Farbe und Pinsel nicht mehr erkannt werden, wird die Maltherapie beendet.

Bis dahin aber kann sie ganz nebenbei auch das vom Verlust anderer Fähigkeiten lädierte Selbstwertgefühl aufpolieren, wenn die Kollegen ein gelungenes Motiv loben. Denn alterstypische Probleme mit Augen, Feinmotorik und schmerzenden Gelenken mindern zwar die Geschicklichkeit. Sie verhindern aber nicht automatisch den kunstfertigen Umgang mit Farbe und Pinsel, weder bei früheren Profis noch bei Neulingen.

Die Zeichnungen einer ehemaligen Kunstmalerin etwa zeugen selbst im hohen Alter von 94 Jahren noch von faszinierender Farbgestaltung. Auch wenn sie inzwischen manche Situationen verwirren. Beim Malen passiert ihr das aber kaum, sagt Pitzke. Ihre Einschätzung nach 15 Jahren Maltherapie mit Pflegeheimbewohnern: "Ohne Kunsttherapie bauen die alten Menschen schneller ab."

* Name von der Redaktion geändert

Informationen: Frankfurter Therapeutikum, Hügelstr. 69, 60433 Frankfurt/Main, Telefon 069 / 53 09 31 40.



STICHWORT

Zukunftsforum Demenz

Ziel des Zukunftsforums Demenz ist eine bessere Versorgung der etwa 1,2 Millionen Demenzpatienten in Deutschland. Zu den Maßnahmen gehören unter anderem die Information der Öffentlichkeit über die Krankheit und regelmäßige Themen-Workshops. Letztere dienen dem interdisziplinären Austausch der an der Patientenbetreuung beteiligten Gruppen, von Selbsthilfe- und Pflegeverbänden bis zu Kostenträgern und Ärzten. Initiiert wurde das Forum von Merz Pharmaceuticals aus Frankfurt am Main. Merz engagiert sich in der Alzhei-merforschung und erhielt für das zur Behandlung der Alzheimerdemenz entwickelte Memantin (Axura®) im Jahr 2002 den Innovationspreis der deutschen Wirtschaft.

Mehr zum Thema

Unlauterer Wettbewerb

Demenz-Vorsorge mit Hörgerät? Wettbewerbszentrale mahnt ab

Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Ambulantisierung

90 zusätzliche OPS-Codes für Hybrid-DRG vereinbart

Doppel-Interview

BVKJ-Spitze Hubmann und Radau: „Erst einmal die Kinder-AU abschaffen!“

Interview

Diakonie-Präsident Schuch: Ohne Pflege zu Hause kollabiert das System

Lesetipps
Der Patient wird auf eine C287Y-Mutation im HFE-Gen untersucht. Das Ergebnis, eine homozygote Mutation, bestätigt die Verdachtsdiagnose: Der Patient leidet an einer Hämochromatose.

© hh5800 / Getty Images / iStock

Häufige Erbkrankheit übersehen

Bei dieser „rheumatoiden Arthritis“ mussten DMARD versagen