VERSORGUNGS-DEFIZITE

Nur jeder dritte Patient erhält Medikamente

BERLIN (ble). Eine eklatante Unter- und Fehlversorgung von Demenzkranken hat der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie Professor Hans Gutzmann in Berlin angeprangert.

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So erhält aktuell offenbar jeder zweite Bürger mit Demenz, der pflegebedürftig ist und ambulant behandelt werden muss, trotz Alzheimer-Diagnose keine antidementiven Medikamente, sagte Gutzmann unter Berufung auf erste Ergebnisse einer eigenen Befragung unter 12 000 ambulanten Pflegediensten. Die Umfrage wurde vom Unternehmen Merz gefördert. Insgesamt müsse sogar davon ausgegangen werden, dass nur jeder dritte Demenzkranke medikamentös behandelt werde, sagte Gutzmann. "Ich denke, da ist viel zu tun."

Auch der Vorsitzende der Hirnliga, Professor Hans-Jürgen Möller, kritisierte die Lage der Demenzkranken scharf. Zwar sei die medikamentöse Therapie nur ein Baustein neben der psychosozialen und pflegerischen Betreuung. Doch habe jeder Patient einen Anspruch auch auf medikamentöse Behandlung, mit der sich der Verlauf der Krankheit verzögern lasse.

Der Umfrage zufolge wird zudem jeder dritte Demenzkranke gar nicht als solcher erkannt, so Gutzmann weiter. Die Folge: Etwa drei von vier Angehörigen brechen nach den Erfahrungen der Pflegedienste unter dieser Situation irgendwann zusammen, der Pflegebedürftige muss in ein Heim verlegt werden - mit hohen finanziellen Lasten für die sozialen Sicherungssysteme. So kostet nach Angaben der Vorsitzenden der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, Heike von Lützau-Hohlbein, die stationäre Pflege eines demenziell Erkrankten pro Jahr etwa 70 000 Euro. Nur ein kleiner Teil davon ist indes durch die Pflegeversicherung gedeckt. Und bis 2030 ist mit einer Verdoppelung der Zahl Demenzkranker auf dann zwei Millionen Menschen zu rechnen. Hierauf seien die Pflegeheime strukturell nicht vorbereitet, so Gutzmann. "Da muss nachgerüstet werden."

Gutzmann warnte die Politiker davor, das Problem auszusitzen und auf Erfolge durch neue Medikamente zu setzen. Zwar sei in den kommenden Jahren mit Fortschritten zu rechnen, doch sei eine solche Politik "schlichtweg gefährlich. Würden Sie Ihr Haushaltsbudget auf einem potenziellen Lottogewinn gründen?", fragte Gutzmann.

Einen Grund für die offensichtlich hohe Zahl unerkannter Demenzkranker sehen die Forscher im hohen finanziellen und zeitlichen Diagnoseaufwand für die Niedergelassenen. Zudem werde die Demenz noch immer mitunter als hinzunehmendes Altersphänomen betrachtet, so Möller. Dabei könnten Ärzte etwa durch den Ausschluss einer Demenz viel zur Lebensqualität alter Menschen beitragen, warb Möller für mehr Sensibilität.

Mit Blick auf den jüngsten Vorstoß des französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy für mehr Forschungsmittel, forderte er auch von der Bundesregierung verstärkte finanzielle Anstrengungen. Vorstellbar seien auch gemeinsame Aktionen: "Wenn wir gemeinsame Rüstungsprojekte haben, warum sollten wir dann nicht auch gemeinsame Forschungsprojekte haben?"

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