Interview

"Ein hohes Alter erreichen - und das sehr fit!"

Der demografische Wandel wird zu umfassenden Veränderungen in der Gesellschaft führen. Dem muss sich der Gesundheitssektor widmen. Das Engagement auch der Industrie in der Altersmedizin ist enorm wichtig, sagt Dr. Andrej Zeyfang, Geriater und Diabetologe.

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Dr. Andrej Zeyfang

Aktuelle Position: Seit 2006 Chefarzt der Abteilung für Innere und Geriatrie am Bethesda-Krankenhaus in Stuttgart.

Werdegang/Ausbildung: 1983 bis 1989 Studium der Humanmedizin in Rom, 1994 Promotion, 1996 Facharzt für Innere.

Karriere: 1997 bis 1999 Oberarzt am Geriatrischen Zentrum des Bürgerhospitals Stuttgart, 2000 bis 2003 Chefarzt der Geriatrischen Reha-Klinik in Aalen, 2003 bis 2006 Chefarzt der Bethesda Geriatrischen Klinik Ulm.

Ärzte Zeitung: Was bedeutet die Multimorbidität im Alter für die Gesellschaft und für die Medizin?

Professor Andrej Zeyfang: Es ist einfach eine Tatsache: Die Menschen werden immer älter und mit dem ansteigenden Lebensalter leiden immer mehr an vielen Krankheiten zugleich. Durch verbesserte Prävention lässt sich oft der Beginn oder das Fortschreiten einer Erkrankung hinauszögern oder auch verhindern -manchmal aber auch nicht.

Das gesellschaftliche und medizinische Bestreben sollte sein, trotz einer ansteigenden Zahl von Erkrankungen ein höchstmögliches Maß an Lebensqualität bei jedem Einzelnen über eine insgesamt längere Lebenszeit zu erhalten. Zum anderen geht es aber auch darum, dass die Zeit, die ein älterer Mensch selbstbestimmt und autonom verbringen kann, möglichst lange aufrecht erhalten wird.

Plakativ formuliert würde dies für den Einzelnen bedeuten: Möglichst ein hohes Alter erreichen - und das sehr fit! Und dann eben irgendwann ins Bett gehen, einschlafen und nicht mehr aufwachen. Wenn das gelingt, wird dies wissenschaftlich die Kompression der Morbidität auf einen kurzen letzten Lebensabschnitt genannt, oder anders ausgedrückt: eine möglichst lange behinderungsfreie Lebenszeit.

Ärzte Zeitung: Kann Projektförderung und können neue Ideen, die durch die Initiative eines Industrieunternehmens, wie im Falle Berlin-Chemie, zustande kommen, einen substanziellen Beitrag leisten?

Zeyfang: Es ist entscheidend und wichtig, dass sich auch die Industrie auf die demografischen Veränderungen einstellt und sich der Konsequenzen daraus annimmt. Man kann nicht einfach nur die Augen verschließen, die Probleme einer älter werdenden Bevölkerung auf die Gesellschaft abladen oder darauf warten, dass von der Politik etwas kommt.

Ich halte es für einen wertvollen Ansatz, dass sich ein Unternehmen in Fragen der Altersmedizin und der Altenversorgung engagiert - im eigenen und im gesellschaftlichen Interesse. Es geht darum, die Medizin für den alten Menschen und die Versorgung des älteren Menschen zu verbessern.

Ärzte Zeitung: Bei dem SilverStar waren Bewerber im Rennen, die vor allem Ausbildung oder Weiterbildung von Personen in Pflege- und Altenheimen optimiert haben, etwa im Bereich der Diabetologie …

Zeyfang: Das ist ein sehr guter Ansatz. Die Weiterbildung in Medizin und Pflege zu optimieren, kommt direkt den Patienten zugute. Dafür gibt es viele gute Beispiele. Im Alter sind es ganz andere Inhalte, die für den alten Menschen von Belang sind.

Es bestehen zum Beispiel bei der Ernährung von Typ-2-Diabetikern im jungen und mittleren Lebensalter andere Prioritäten als im hohen Lebensalter. In den ersten Lebensabschnitten steht der Kampf gegen das Übergewicht im Vordergrund. Im hohen Lebensalter kehrt sich das Problem um.

Viele alte Menschen verbringen ihre letzten Lebensjahre im stetigen Kampf gegen Fehl- und Mangelernährung. Es gilt tatsächlich, Ärzten, Pflegekräften und Sozialarbeiten sowie allen Beteiligten ein Bewusstsein über diese und andere Besonderheiten durch Weiterbildung oder Zusatzqualifizierung zu schaffen.

Ärzte Zeitung: Arzneitherapie im Alter ist ebenfalls ein komplexes Thema. Darf hier überhaupt aus ökonomischen Gründen gespart werden?

Zeyfang: Das ist ein schwieriges Thema. In den meisten Studien sind jüngere Lebensalter überrepräsentiert. Die meisten Studien haben zum Beispiel keine Patienten, die älter sind als 65 Jahre. Deshalb hat man für die Gruppe der Älteren keine richtigen Daten.

Die Leitlinien werden aber aufgrund dieser Studien erstellt. Zwar ist das für jüngere Patienten ein richtiges Vorgehen. Es ist aber zu fragen, ob damit auch die Situation des Älteren mit seiner Multimorbidität richtig abgebildet ist.

Wenn man zum Beispiel einen älteren Menschen mit fünf chronischen Erkrankungen gemäß fünf verschiedenen Leitlinien behandelt, dann kommt man schnell auf eine Zahl von 12 verschiedenen Medikamenten am Tag, in 19 Dosierungen zu 5 unterschiedlichen Tageszeiten - Neben- und Wechselwirkungspotenzial sind so gar nicht mehr zu überschauen.

Der ältere Mensch sollte so wenig wie nötig Medikamente erhalten - nicht aus ökonomischer Überlegung heraus, sondern damit seine Lebensqualität erhalten wird und kein Schaden entsteht.

Ärzte Zeitung: Aber es gibt doch auch Leitlinien, die besonders für ältere Patienten gemacht worden sind …

Zeyfang: Im Alter muss man den Menschen nicht nach der Zahl der Lebensjahre, sondern nach den bestehenden geriatrischen Syndromen betrachten, seinen Einschränkungen oder Funktionsverlusten.

Wir haben es in einer Praxisleitlinie der Deutschen Diabetes Gesellschaft auch so gehandhabt, dass wir Menschen mit hoher Funktionalität, von solchen mit bestehenden geriatrischen Syndromen wie geistige Leistungseinschränkungen, Inkontinenz oder Gehbehinderung oder Sturzgefahr unterschieden haben.

Drittens werden dann Menschen mit schwerer Einschränkung der Funktion, die pflegebedürftig und demenzkrank sind, gesondert betrachtet.

Aufgrund dieser sehr groben Unterteilung alter Menschen, die im US-Amerikanischen als Go-Goes, Slow-Goes und No-Goes bezeichnet werden, ist es möglich, angepasste Zielbereiche für die Therapie vorzugeben, wovon der Patient einen maximalen Nutzen hat und möglichst wenig zu Schaden kommt.

Das Interview führte Rainer Klawki.

Lesen Sie dazu auch: Initiative "Unsere Zukunft wird älter. Zeit zu handeln"

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