Leitartikel zum Welt-Alzheimer-Tag

Was wir heute gegen das Vergessen tun können

Zum Welt-Alzheimer-Tag am 21. September wird an ein Schicksal erinnert, das immer mehr Menschen droht. Zeit auch auf die Möglichkeiten zu verweisen, die ein solches Schicksal lindern oder gar verhindern können.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Die Zahl Demenzkranker liegt heute in Deutschland bei rund einer Million.

Die Zahl Demenzkranker liegt heute in Deutschland bei rund einer Million.

© Osterland / fotolia.com

Morbus Alzheimer ist ohne Zweifel eine der größten medizinischen Herausforderungen für die Gesellschaften des 21. Jahrhunderts.

Mit wachsendem Wohlstand erreichen nun zum Glück auch die Menschen in den Schwellen- und Entwicklungsländern ein höheres Alter - mit der Konsequenz, dass auch hier die Alzheimerprävalenz in den nächsten Jahrzehnten drastisch steigen wird.

Die Zahl der Demenzkranken dürfte sich daher von derzeit weltweit etwa 35 Millionen auf das Dreifache im Jahr 2050 erhöhen, und selbst in Deutschland könnte sie sich noch einmal verdoppeln.

Man braucht wenig Fantasie, um sich auszumalen, welche Folgen diese Entwicklung auf die Sozial- und Gesundheitssysteme hat.

Schon jetzt liegen die Kosten für Demenz in den europäischen Volkswirtschaften nach Angaben des European Brain Councils bei rund 105 Milliarden Euro pro Jahr. Jeder Cent, den man heute sinnvoll in die Bewältigung des Problems investiert, könnte sich daher in Zukunft mehrfach auszahlen. Es ist also Zeit zu handeln.

Verbesserung der Versorgung

Eine präventiv wirksame Therapie gegen Alzheimer ist nicht in Sicht, umso wichtiger ist eine leitliniengerechte Versorgung der Erkrankten. Diese mausert sich aber nur langsam von der Ausnahme zum Standard.

Nach Zahlen einer Untersuchung aus 2010 werden in Deutschland noch immer weniger als die Hälfte der Alzheimerpatienten mit Antidementiva behandelt - obwohl diese eine Aufnahme in ein Pflegeheim verzögern und damit auch Kosten sparen helfen. Genaue und aktuelle Zahlen gibt es aber nicht, daran hat offenbar niemand Interesse.

Aufhorchen lassen aber immer wieder Berichte, etwa zur Versorgung von Demenzpatienten in Pflegeheimen.

Ein aktueller Health-Technology-Assessment-Bericht kritisiert eine ungenaue und zu unspezifische Diagnose bei Demenzpatienten - eine Bildgebung und ausführliche Labordiagnostik, wie in der S3-Leitlinie gefordert, ist offenbar weiterhin nicht üblich.

Auch die Unterversorgung von Alzheimerpatienten mit Antidementiva und eine Fehlversorgung mit Neuroleptika werden angeprangert. Hier sind dringend Anreize für Ärzte nötig, Alzheimerpatienten in Pflegeheimen leitliniengerecht zu behandeln.

Neue Ideen gefragt

Doch Therapie und Diagnostik bilden nur die eine Seite: Versorgungseinrichtungen müssen sich auch auf anderen Ebenen demenzgerecht neu ordnen. Modellprojekte gibt es bereits an einigen Kliniken, etwa Desorientierungssysteme, die Alarm schlagen, wenn die Patienten verwirrt umherirren.

Eine ganz andere Herausforderung entsteht mit der Auflösung klassischer Familienstrukturen. Immer mehr Menschen altern in Einsamkeit, weil sie entweder keine Kinder haben oder diese weit entfernt ihr eigenes Leben führen.

Hier sind ebenfalls neue Ideen gefragt, etwa alternative Wohnkonzepte jenseits von Alten- und Pflegeheimen.

Will man eine Verdopplung oder Verdreifachung der Alzheimerprävalenz in naher Zukunft vermeiden, so kann dies derzeit nur über eine verbesserte Prävention gelingen.

Die Quintessenz hunderter epidemiologischer Untersuchungen und einiger Interventionsstudien lautet: Viel körperliche und geistige Aktivität, moderater Lebensstil ohne Nikotin und Alkoholexzesse, gute Blutdruck und Diabeteskontrolle, eine gesunde Ernährung - damit lässt sich vermutlich jede zweite Demenzerkrankung verhindern.

Dies ist zum einen vielen Menschen noch immer nicht klar, zum andern gibt es in unserem Gesundheitssystem kaum Anreize, die einen gesunden Lebensstil fördern.

Globale Koordination der Forschung

Über ein Dutzend erfolglose Studien mit Wirkstoffen gegen Beta-Amyloid - gescheitert ist hier vor allem ein Forschungsmodell.

Noch immer werden neue Alzheimerwirkstoffe weitgehend unkoordiniert von kleinen Gruppen an Universitäten oder im Geheimen in Industrielaboren entwickelt, mit dem Effekt, dass sich alle zugleich auf dasselbe, gerade als hip geltende Ziel stürzen und dann verwundert bemerken, dass es wohl das falsche war.

Mindestens ein Jahrzehnt kostbarer Zeit sowie Milliarden Euros und Dollars wurden auf diese Weise verschwendet. Die bisherige Strategie hat zwar bei der Entwicklung neuer Blutdrucksenker prima funktioniert, weil es beim Blutdruck nur wenige Stellschrauben gibt, die man alle gut kennt.

Bei einer hochkomplexen neurodegenerativen Erkrankung, die man noch nicht einmal ansatzweise versteht, ist es vielleicht etwas naiv zu glauben, es gebe einen einzelnen Schalter, um sie auszuknipsen.

Als Beispiel sollten uns eher die Methoden in anderen Disziplinen dienen: Das als "Gottesteilchen" bekannte Higgs-Boson wurde zwar vom britischen Physiker Peter Higgs schon in den 1960er-Jahren vorhergesagt.

Um es im vergangenen Jahr endlich nachzuweisen, war jedoch die größte und komplexeste Maschine nötig, die die Menschheit je gebaut hatte - wobei tausende Forscher Hand in Hand zusammenarbeiteten.

Mit weniger Aufwand ist vermutlich auch die vor 100 Jahren von Alois Alzheimer beschriebene Krankheit nicht zu besiegen.

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