Nachkriegsgeneration

Wohlstand lässt Demenzrisiko schmelzen

Es gibt in Europa weniger Demenzkranke als noch vor zehn oder 20 Jahren vorausgesagt. Warum das so ist, haben britische Forscher jetzt untersucht - mit überraschenden Erkenntnissen.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Frieden und Wohlstand in der Nachkriegsgeneration wirken sich offenbar positiv auf das Demenzrisiko aus.

Frieden und Wohlstand in der Nachkriegsgeneration wirken sich offenbar positiv auf das Demenzrisiko aus.

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CAMBRIDGE. Große Kohortenstudien haben in den vergangenen Jahren zu überraschenden Ergebnissen geführt: So gibt es in Europa weniger Demenzkranke, als noch vor 10 oder 20 Jahren prognostiziert wurde.

In vielen Industrieländern ist die Zahl der Demenzkranken sogar weitgehend konstant geblieben, obwohl es immer mehr ältere Menschen gibt. Aus solchen Studien lässt sich schließen, dass die Menschen in einem bestimmten Alter heutzutage deutlich seltener an einer Demenz erkranken als noch ihre Eltern.

Auffällig ist, dass jetzt die erste Nachkriegsgeneration das kritische Alter von 70 Jahren erreicht. Forscher um Yu-Tzu Wu von der Universität in Cambridge sehen darin einen möglichen Grund für den Rückgang der Inzidenz: Vielleicht haben die beiden Weltkriege und ihre Folgen Spuren hinterlassen, die Jahrzehnte später die Neurodegeneration beeinflussen (Lancet 2015; online 21. August).

Prävalenz um ein Viertel geringer

Mehrere Studien sind erschienen, die Demenzraten einer Population mit denen vor 10 oder 20 Jahre verglichen. Dazu gehört die spanische Saragossa-Studie (Acta Psychiatr Scand. 2007; 116: 299). Sie fand Ende der 1980er-Jahre eine Demenzprävalenz von 5,2 Prozent unter Spaniern im Alter über 65 Jahre.

Nur sieben Jahre später lag die Demenzrate in einer Kohorte von Personen im selben Alter bei 3,9 Prozent und war damit ein Viertel niedriger als zuvor. Der Unterschied war zwar insgesamt nicht statistisch signifikant, wurden hingegen nur die Männer betrachtet, ließ sich ein hochsignifikanter Rückgang um 43 Prozent feststellen.

Die Teilnehmer der ersten Kohorte wurden bis 1923 geboren - sie hatten den Weltkrieg und den spanischen Bürgerkrieg aktiv miterlebt. Dagegen hatte ein Großteil aus der zweiten Kohorte den Bürgerkrieg nur als Kind miterlebt.

Dieser Trend wurde in späteren Studien und anderen Ländern bestätigt. So fanden Forscher in Stockholm zwar eine weitgehend gleichbleibende Demenzprävalenz in der Bevölkerung im Alter von über 75 Jahren, wenn sie die Zahlen von 1987 und 2001 verglichen (17,5 versus 17,9 Prozent).

Allerdings stellte sich heraus, dass die Demenzkranken in der späteren Kohorte deutlich länger lebten (Neurology 2013; 80: 1888). Gleichbleibende Prävalenz und reduzierte Mortalität - das lässt sich nur damit erklären, dass es in dieser Altersgruppe deutlich weniger Demenz-Neuerkrankungen gibt. Zudem war auch hier bei Männern ein Rückgang der Prävalenz zu verzeichnen (von 12,8 auf 10,8 Prozent), dagegen war sie bei Frauen leicht gestiegen (von 19,2 auf 20,5 Prozent).

Trend gibt es auch in Großbritannien

Ein ähnliches Bild ergibt sich aus einer zweiten schwedischen Untersuchung: In der Göteborg-Studie gab es praktisch keine Unterschiede bei der Demenzprävalenz (rund 5 Prozent) zwischen einer Kohorte über 70-Jähriger in den 1970er-Jahren und in den 2000er-Jahren (Psychol Med 2013; 43: 2627).

Es fällt hier auf, dass Schweden deutlich weniger als andere europäische Länder unter den Folgen der Kriege gelitten hat. So gab es bei der Lebenserwartung keinen großen Einbruch für Kinder, die um den 2. Weltkrieg herum geboren wurden. Der einzige Einschnitt im vergangenen Jahrhundert war während der Grippeepidemie von 1918 zu verzeichnen.

Ganz anders stellte sich die Situation für die Bevölkerung in den Niederlanden dar. Hier kam es 1944 zu einer großen Hungersnot mit einem drastischen Einbruch der Lebenserwartung. Diese war zuvor schon in den ersten Kriegsjahren deutlich zurückgegangen. Möglicherweise spiegelt sich dies auch in der Demenzinzidenz wider.

Sie lag in einer Kohorte von über 55-Jährigen aus dem Jahr 1990, die in den Folgejahren regelmäßig untersucht wurden, noch bei 6,6 pro 1000 Personen, zehn Jahre später war die Inzidenz um ein Viertel geringer (4,9 pro 1000) (Neurology 2012; 78: 1456).

Britische Forscher kamen Anfang der 1990er-Jahre auf eine Demenzrate von 8,3 Prozent bei den über 65-Jährigen in Großbritannien, 20 Jahre später nur noch auf eine Rate von 6,5 Prozent (Lancet 2013, 382: 1405). Auch hier war die Rate um ein Viertel geringer und die Zahl der Demenzkranken damit um 200.000 niedriger als bei einer gleichbleibenden Prävalenz zu erwarten gewesen wäre.

Bessere medizinische Versorgung

Viele Epidemiologen sind inzwischen der Auffassung, dass die bessere medizinische Versorgung zum Rückgang der altersadjustierten Demenzprävalenz und -inzidenz beigetragen hat. Vor allem die flächendeckende Behandlung von Hypertonikern sowie der Einsatz von Lipidsenkern und Antidiabetika könnte zu einer Reduktion von Demenzrisikofaktoren geführt haben.

Die Forscher um Wu geben jedoch zu bedenken, dass auch ein großer Wandel in den Lebensverhältnissen eine wichtige Erklärung liefern kann. Menschen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts geboren wurden, haben zwei Kriege miterlebt und oft unter Hunger, Armut und Epidemien gelitten, was häufig zu psychischen Traumata und einer schlechtere Bildung führte.

Viele Untersuchungen konnten inzwischen zeigen, dass die Kriegsüberlebenden Jahrzehnte später einen deutlich schlechteren Gesundheitszustand aufwiesen als die Nachkriegsgeneration im selben Alter, so die Forscher. Daher sei es nicht überraschend, wenn diese Generation auch ein höheres Demenzrisiko habe.

Die Wissenschaftler leiten daraus die Forderung ab, dass die Demenz-Primärprävention bereits in jungen Jahren beginnen sollte. Eine gute Ausbildung und eine gesunde Ernährung als Kind und im jungen Erwachsenenalter seien wesentliche Voraussetzungen, um das Gehirn ein Leben lang fit zu halten und im Alter möglichst lange kognitive Einbußen zu vermeiden.

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