Demenz

Zahl der Neuerkrankungen in 30 Jahren fast halbiert

Alte Menschen bleiben immer länger geistig fit und erkranken heute im Schnitt fünf Jahre später an Demenz als vor 30 Jahren. Allerdings profitieren Ungebildete nicht davon. Bei ihnen steigt die Inzidenz.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Menschen mit guter Schuldbildung leben offenbar gesünder und bleiben geistig länger fit.

Menschen mit guter Schuldbildung leben offenbar gesünder und bleiben geistig länger fit.

© Ingo Bartussek / fotolia.com

BOSTON. Die zunehmende Überalterung in den Industrienationen lässt Befürchtungen aufkommen, wonach eine steigende Zahl von Demenzkranken die Sozialsysteme künftig stark belasten wird. Seit einigen Jahren mehren sich jedoch die Zeichen, dass die Demenzinzidenz bei den Alten kontinuierlich sinkt und die Zahl der Demenzkranken daher weit weniger dramatisch steigt als bislang angenommen oder sogar konstant bleibt.

So haben britische Forscher bemerkt, dass die alten Prognosen zur Zahl der Demenzkranken heute nicht mehr stimmen (The Lancet 2013, 382 (9902): 1405-1412). Anfang der 1990er-Jahre kamen sie auf eine Demenzrate von 8,3 Prozent bei den über 65-Jährigen in Großbritannien, 20 Jahre später nur noch auf 6,5 Prozent. Die Rate ist damit um ein Viertel geringer und die Zahl der Demenzkranken um 200.000 niedriger, als bei einer gleichbleibenden Prävalenz zu erwarten gewesen wäre.

Ähnliche Daten liefern Querschnittstudien und Registeranalysen aus anderen europäischen Ländern - Spanien, Schweden, Dänemark und den Niederlanden, wobei die Demenzinzidenz je nach Untersuchung im Laufe von 10 bis 20 Jahren um etwa ein Viertel zurückging.

 Nicht zuletzt, weil dieses Phänomen etwa zwei Dekaden nach dem Einbruch der Herzinfarkt- und Schlaganfallraten erfolgte - die Risikogeneration hatte nun das Demenzalter erreicht -, wird davon ausgegangen, dass eine verbesserte Herzkreislauftherapie und die Reduktion von kardiovaskulären Risikofaktoren eine entscheidende Bedeutung bei dieser Entwicklung hat.

Weniger kardiovaskuläre Risiken

Dies wird nun eindrucksvoll durch die Mutter aller epidemiologischen Kohortenstudien, die Framingham-Studie, bestätigt. Nach den Resultaten dieser großen prospektiven Untersuchung lässt sich über 30 Jahre hinweg ein Rückgang der Demenzinzidenz um 44 Prozent beobachten.

Forscher um Dr. Claudia Satizabal von der Universität in Boston haben sich vier Perioden der seit 1948 laufenden Studie vorgenommen (N Engl J Med 2016; 374: 523-32). Die erste Zehn-Jahres-Periode reichte von Ende der 1970er- bis Mitte der 1980er-, die letzte von Ende der 2000er- bis Anfang der 2010er-Jahre.

Dazu haben sie Angaben sowohl der ursprünglichen Kohorte als auch von deren Nachkommen ausgewertet, Letztere waren im Laufe der Zeit in die Studie aufgenommen worden.

Seit 1975 erfassen Ärzte in den alle zwei bis vier Jahre erfolgenden Untersuchungen auch die kognitive Leistung. Teilnehmer mit für ihr Alter unterdurchschnittlichen Werten werden eingehend neurologisch und neuropsychologisch untersucht.

Der Mini-Mental-Status-Test wird seit 1991 standardmäßig bei den Regeluntersuchungen verwendet, Demenzdiagnosen erfolgten in der Vergangenheit nach den DSM-IV-Kriterien.

Für jede der Perioden konnten die Forscher Angaben zu 2000 bis 2500 Patienten über 65 Jahren auswerten. Das Durchschnittsalter lag zum Beginn der ersten Periode bei 69 Jahren, in den anderen drei bei 72 Jahren.

Wie sich zeigte, nahm im Laufe der Dekaden der Anteil der Teilnehmer mit einem College-Abschluss kontinuierlich zu - von 13 Prozent in der ersten Periode auf 34 Prozent in der jüngsten. Zugleich sank zwischen zweiter und vierter Dekade der durchschnittliche systolische Blutdruck um 12 mmHg, der diastolische um 5 mmHg.

Der Anteil von Teilnehmern mit Cholesterinsenkern stieg von 12 Prozent in der dritten auf 43 Prozent in der vierten Periode, der Anteil von Diabetikern nahm von der ersten zur vierten Periode von 10 auf 17 Prozent zu, und der BMI stieg im Mittel um 2 Punkte auf nunmehr 28. Der Anteil von Personen mit kardiovaskulären Erkrankungen und Schlagfällen stieg zunächst deutlich an und fiel dann stark ab.

Mehr Demenz bei Bildungsfernen

Die alters- und geschlechtsadjustierte Demenzrate sank kontinuierlich. In der ersten Periode erkrankte noch 3,6 Prozent im Laufe von fünf Jahren an einer Demenz, in der zweiten Periode waren es noch 2,8 Prozent, in der dritten 2,2 Prozent und der vierten 2,0 Prozent. Das Alter bei der Demenzdiagnose erhöhte sich im Laufe der vier Dekaden von etwa 80 auf 85 Jahre.

Insgesamt wurden 371 Demenzerkrankungen diagnostiziert, bei zwei Dritteln ergab sich eine Alzheimerdemenz, bei den übrigen eine vaskuläre Demenz. Bei der Alzheimerdemenz ging die Inzidenz etwas langsamer und weniger stark zurück (von 2,0 auf 1,4 Prozent) als bei der vaskulären Demenz (von 0,8 auf 0,4 Prozent).

Wie sich herausstellte, profitierten aber nicht alle Teilnehmer gleichermaßen von der Risikoreduktion. Es offenbarte sich eine klare Zweiklassengesellschaft: Etwas mehr als ein Drittel der Demenzpatienten hatte keinen Highschool-Abschluss, Personen ohne diese Grundbildung stellten allerdings weniger als ein Fünftel der Framingham-Population.

Und bei ihnen ist die Demenzinzidenz kontinuierlich gestiegen: Sie lag in der vierten Periode 66 Prozent höher als in der ersten. Dagegen war die Inzidenz bei den US-Amerikanern mit einem Schulabschluss in der vierten Periode um 56 Prozent geringer.

Hier ergibt sich also ein klarer Zusammenhang zwischen Demenzrisiko und Bildungsgrad, der sich allerdings nicht nur auf die Bildung zurückführen lässt: Während bei den Bürgern mit Schulabschluss die Häufigkeit der meisten kardiovaskulären Risikofaktoren mit Ausnahme von Adipositas und Diabetes stetig zurückging, war dies bei den Schulabbrechern nicht der Fall. Dies lässt sich als weiterer Hinweis sehen, wonach die Lifestyle- oder medikamentös bedingte Zurückdrängung kardiovaskulärer Risikofaktoren ein wesentlicher Grund für die sinkende Demenzinzidenz ist. Solche Daten sind zudem ein weiteres Indiz dafür, dass sich eine Demenz durch Lebensstilmodifikationen und Herzkreislaufmedizin verzögern lässt.

Allerdings scheinen kardiovaskuläre Risikofaktoren nicht alles zu sein. Neben höherer Bildung ist möglicherweise ein geringerer psychischer Stress von Bedeutung. Forscher von der Universität in Cambridge, Großbritannien, hatten vor einem halben Jahr darauf hingewiesen, dass der Rückgang der Demenzinzidenz vor allem in Ländern auffällt, die in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts unter Kriegen gelitten hatten, und zwar dann, wenn man Kriegs- und Nachkriegsgenerationen vergleicht. Möglicherweise können auch Traumata, Armut und Existenzängste das Demenzrisiko steigern.

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