HINTERGRUND

Zystopathie und überaktive Blase sind bei Diabetikern häufig - Patienten sollten darauf angesprochen werden

Von Helga Brettschneider Veröffentlicht:

Nur selten wird bei Diabetikern an die Möglichkeit gedacht, daß auch die Harnblase beeinträchtigt sein kann. Dabei ist die diabetische Zystopathie ein häufiger Folgeschaden des Diabetes. Jeder vierte nicht insulinpflichtige und bis zu 48 Prozent der insulinpflichtigen Patienten haben sie. Die Zystopathie könne Nieren zerstören und erfordere deshalb ein Eingreifen schon im Frühstadium der überaktiven Blase, sagte Dr. Stefan Carl aus Emmendingen beim Kongreß der deutschen Diabetes-Gesellschaft in Berlin.

Polyneuropathie ist Mitursache der Blasenprobleme

Bei diabetischer Zystopathie verliert der Patient das Gefühl für den Füllungszustand der Blase. Ihre Kapazität steigt. Die Harnblase, eigentlich als muskulöses Hohlorgan konzipiert, leiert schließlich regelrecht aus, und nach jeder Miktion bleibt ein Rest Urin zurück. Dabei ist am Entstehen der Zystopathie oft eine diabetische Schädigung des autonomen Nervensystems beteiligt.

    Patienten haben kein Gefühl für den Füllzustand ihrer Blase.
   

Carl hat die Probleme anhand eines Vergleichs von 23 gesunden Probanden und 23 Diabetikern mit Polyneuropathie (PNP) verdeutlicht: Die Probanden der Kontrollgruppe hatten ein Miktionsvolumen von 513 ml und keinen Resturin, die Diabetiker dagegen ein Volumen von 655 ml und 74 ml Restharn.

Sie spürten den ersten Harndrang auch erst später als die Personen der Kontrollgruppe - bei 573 statt bei 375 ml. Dabei war die maximale Blasenkapazität von 625 ml bei ihnen auf 913 ml, fast einen Liter, erhöht.

Wegen der gestörten Sensibilität spüren die Patienten nicht, wann die Blase leer ist: Die Miktion wird vorzeitig abgebrochen, den Restharn nehmen sie nicht wahr. Der ständig vorhandene Urin aber liefert den Nährboden für wiederholte Harnwegsinfekte.

Durch die geschädigte Blasenmuskulatur kann der infizierte Urin sich bis in die Nieren zurückstauen. Das führt zu Pyelonephritiden und verläuft oft unauffällig, weil der Patient auch dies nicht spürt. "Es kann zu schwerwiegenden Nieren-Funktionsstörungen bis hin zum Nierenverlust kommen", so der Urologe. "Wir sollten also schon im Frühstadium handeln, um irreversible Schäden zu verhindern."

Als Frühsymptom gilt heute die überaktive Blase. So belegen die Daten von 47 Diabetikern mit PNP bei drei von vier Patienten eine für hyperaktive Blasen typische Detrusorinstabilität, berichtete Carl bei dem von Bayer geförderten Symposium. "Eine Detrusoratonie, die wir früher als diabetische Zystopathie bezeichneten, haben dagegen nur 30 Prozent."

Jede zweite Frau mit Diabetes hat auch eine überaktive Blase

Bei Diabetikern ohne PNP sieht es ähnlich aus. Eine überaktive Blase plagt jede zweite Frau mit Diabetes und 59 Prozent der männlichen Diabetiker. Drei Symptome gelten als Merkmal: Mindestens neunmaliges Wasserlassen während des Tages, mindestens zweimal pro Nacht und imperativer Harndrang mit und ohne Dranginkontinenz.

Zwei der Symptome müssen vorliegen. Wie später der Übergang von der Hyperaktivität zur Zystopathie erfolgt, ist zwar noch nicht geklärt. Aber die Entwicklung zur klassischen Zystopathie mit Restharnbildung wurde mehrfach beobachtet. Sie scheine zudem eher bei schlechter Stoffwechseleinstellung einzutreten, so Carl.

Imperativer Harndrang zwingt Betroffene sofort zur Toilette

Tückisch bei überaktiver Blase ist vor allem der imperative Harndrang, der die Patienten sofort zur Toilette zwingt. Wer vorsorglich läuft, um dies zu vermeiden, begeht jedoch einen fatalen Fehler: Dadurch sinkt das Miktionsvolumen, die Blase schrumpft, der Drang wird noch stärker.

"Irgendwann kann der Urin gar nicht mehr gehalten werden. Deshalb muß man möglichst früh eingreifen", betont der Urologe. Im Frühstadium könnten die Patienten gut behandelt werden. So nahmen Inkontinenzepisoden, Miktionsrate und imperativer Harndrang bei Diabetikern, die Darifenacin (Emselex®) erhielten, deutlich ab. Schon nach vier Tagen waren über 40 Prozent der 21 Probanden, nach zwei Monaten 60 Prozent wieder völlig kontinent.

Das Präparat wirkt sehr selektiv auf den Muskarin-M3-Rezeptor, der die Kontraktion der Harnblasen-Muskulatur kontrolliert. Die Harndrang-Episoden verringerten sich mit 7,5 mg täglich um 56 Prozent und mit 15 mg um zwei Drittel. Die Zahl der Miktionen ging mit beiden Dosierungen um mehr als zwei Toilettengänge am Tag zurück. Eine Studie mit 500 Patienten belegt zudem eine signifikant verbesserte Blasenkapazität.

Viele Diabetiker verschweigen die Probleme aus Scham

Carl empfiehlt, die Patienten direkt nach den Symptomen zu fragen. Zum einen wegen der Häufigkeit der Krankheit, zum anderen, weil viele das Thema aus Scham nicht von selbst ansprechen. Zeigt sich bei der Ultraschalluntersuchung nach einer Miktion bereits eine Restharnbildung, sollte der Patient zum Urologen überwiesen werden.



FAZIT

Eine diabetogene Zystopathie tritt bei Diabetikern häufig auf. Merkmal ist die inkomplette Blasenleerung bei eingeschränkter Blasensensibilität. Als Folge von Restharn, gehäuften Infekten und Rückstau des Urins können erhebliche Nierenschäden entstehen. Die Patienten sollten deshalb schon im Frühstadium - bei überaktiver Blase - behandelt werden. Deren Symptome sind imperativer Harndrang mit und ohne Dranginkontinenz, Pollakisurie und Nykturie. Wirksam sind Muskarin-Rezeptor-Antagonisten; eine selektive Hemmung der M3-Rezeptoren hat besonders wenig Nebenwirkungen. (hbr)

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