Diabetologe

"Blutzucker-Messung fördert gesunden Lebensstil"

Professor Stephan Martin, Chefarzt und Direktor des Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums in Düsseldorf, ist ein Verfechter der Blutzucker-Selbstkontrolle bei Typ-2-Diabetes. Wann diese sinnvoll ist und wann nicht, erklärt er im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung".

Von Beate Schumacher Veröffentlicht:

Professor Stephan Martin

'Blutzucker-Messung fördert gesunden Lebensstil'

© Stephan Martin

Aktuelle Position: Chefarzt für Diabetologie und Direktor des Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums des Verbundes der Katholischen Kliniken Düsseldorf.

Karriere: Ab 1998 Oberarzt und ab 2002 leitender Oberarzt an der Deutschen DiabetesKlinik im Deutschen Diabetes Forschungsinstitut Düsseldorf (jetzt Deutsches DiabetesZentrum). 2007-10 Ärztlicher Direktor des Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums und Chefarzt für Innere Medizin - Diabetologie an den Sana Kliniken Düsseldorf GmbH.

Schwerpunkte: Martin beschäftigt sich seit der Assistenzarztzeit mit grundlagenwissenschaftlichen und klinischen Fragestellungen des Diabetes. Für seine Arbeit wurde er mit Preisen geehrt, etwa der Deutschen Diabetes Gesellschaft und der American Academy of Continuing Medical Education.

BZ-Messung fördert gesunden Lebensstil

Ärzte Zeitung: Herr Professor Martin, Blutzuckerteststreifen werden Patienten mit einem Typ-2-Diabetes ohne Insulintherapie nur in besonderen Situationen erstattet. Sie halten die Blutzucker-Selbstmessung jedoch schon im ersten Diabetesstadium für unverzichtbar. Warum?

Professor Stephan Martin: Der Typ-2-Diabetes ist eine Erkrankung, die durch den Lebensstil ausgelöst wird. Ich halte es deswegen für den falschen Weg, dass man den Patienten gleich Medikamente gibt. Man kann die Patienten auch so zurückholen.

Bei mir erhalten sie erst einmal die Chance, selbst etwas gegen ihre Krankheit zu tun. Wir zeigen ihnen, was man alles mit kleinen Änderungen des Lebensstils erreichen kann. Das geht nicht ohne die Blutzucker-Selbstmessung.

Wie gehen Sie vor?

Martin: Wir fordern die Patienten auf, vor dem Essen und eineinhalb Stunden danach den Blutzucker zu messen. Dadurch sehen sie, dass der Wert nach Junk Food viel stärker ansteigt als etwa nach einem Salat.

Außerdem sollen die Patienten einige Zeit nach sportlichen Aktivitäten den Blutzucker messen. Dann lernen sie beispielsweise, dass der Blutzucker am Morgen niedriger ist, wenn sie abends Sport gemacht haben. Mit diesen Botschaften kann der Patient erst einmal arbeiten.

Was lässt sich durch gezielte Änderungen des Lebensstils erreichen?

Martin: Dadurch kann man die Patienten wieder in eine Vorstufe zurückbringen. Wir machen ja mit der Deutschen Diabetes Stiftung die Aktion "Diabetes Champions", die bundesweit Personen sucht, die ihren Diabetes besiegt haben. Hier melden sich immer mehr Patienten, die es geschafft haben. Das ist natürlich nicht einfach, man muss alte Gewohnheiten über Bord werfen und man muss große Willensstärke besitzen.

Diesen Patienten wird Ihrer Meinung nach bisher zu wenig Unterstützung angeboten …

Martin: Körperliche Inaktivität wird gefördert, durch Internet, Fernsehen und Automatisierung. Die Politik, insbesondere die Gesundheitspolitik hält sich in dieser Frage sehr dezent zurück! Wenn die Menschen dann krank werden, weil sie sich nicht bewegen und zu viel essen, bekommen sie zu hören, dass sie selbst schuld sind.

Wir müssen diese Menschen unterstützen, einen anderen Weg einzuschlagen. Daran fehlt es in diesem Staat. Das Problem der durch Lebensstil-bedingten Erkrankungen wird bei uns Ärzten einfach endgelagert, wir sollen für die gesellschaftlichen Fehlentwicklungen den Kopf hinhalten.

Aktuell werden daher die betroffenen Patienten schnell auf Tabletten gesetzt. Dabei kann man gerade beim Diabetes mit ganz wenigen Maßnahmen inklusive Blutzucker-Selbstmessung schnell sehr viel erreichen. Patienten, die neu an einem Diabetes erkrankt sind, sind zwar vermehrt gefährdet, später einen Herzinfarkt zu erleiden, aber noch haben sie keinen Herzinfarkt und können durch geeignete Maßnahmen vorbeugen. In diesem Sinn ist Diabetes eine Chance und noch keine Katastrophe.

Die Blutzucker-Selbstmessung ist auch bei oral behandelten Typ-2-Diabetikern umstritten. Welche Evidenz gibt es hier zugunsten der Messungen?

Martin: Wir haben eine epidemiologische Studie durchgeführt, die ROSSO (Retrospective Study Self monitoring of Blood Glucose and Outcome in People with Type 2 Diabetes)-Studie, in der die Patienten weniger Herzinfarkte hatten und länger lebten. In mehreren Studien wurde außerdem eine Reduktion des HbA1c nachgewiesen.

Das IQWiG hat 2009 nur eine klinisch nicht relevante HbA1cMinderung attestiert. Wie ist diese widersprüchliche Einschätzung zu erklären?

Martin: Das IQWiG verlangt die falschen Studien. Für die Nutzenbewertung wurden nur prospektive randomisierte Studien zugelassen. In diese Studien werden ohnehin nur motivierte Patienten aufgenommen. Die Blutzuckerselbstmessung ist aber auch ein Motivationsinstrument.

Das kann man nicht wie ein Medikament untersuchen, indem man eine Messung gegen drei Messungen vergleicht. Was zählt, ist, ob aus den Messwerten Konsequenzen gezogen werden.

Aufgrund der IQWiG-Bewertung ist die Erstattungsfähigkeit der Blutzucker-Teststreifen für Typ-2Diabetiker seit 2011 stark eingeschränkt. Wird seitdem weniger gemessen?

Martin: In allen Einstellungsphasen werden die Teststreifen ja weiterhin von den gesetzlichen Kassen ersetzt. Es gibt außerdem genügend Patienten, die sich zusätzlich Streifen kaufen. Ich denke, man darf hier auch den einen oder anderen Patienten mit in die Verantwortung nehmen.

Schließlich kennen wir auch die negativen Seiten der Blutzucker-Selbstkontrolle: Oft werden bergeweise Werte dokumentiert, ohne dass sich daraus eine Konsequenz ergibt. Deswegen finde ich es gar nicht so schlecht, wie es jetzt geregelt ist.

Als Arzt zu sagen, dass man gar keine Streifen verordnen darf, wäre eine falsche Lesart der KV-Verordnung. Man muss einen Mittelweg finden. Uns ist das bisher immer gelungen, und wir haben bislang keinen Regress erhalten.

Sie sehen keine negativen Auswirkungen der eingeschränkten Verordnungsfähigkeit?

Martin: Doch. Die Gefahr besteht darin, dass Ärzte ihren Patienten schneller Insulin verordnen, weil sie ihnen dann die Teststreifen verschreiben können. In Deutschland wird pro Einwohner doppelt so viel Insulin verordnet wie in Österreich oder Frankreich!

Wenn Insulin zu früh eingesetzt wird, werden die Patienten aber nur dicker, und das Insulin wirkt nicht, weil die Patienten ohnehin zu viel davon haben. Mit der gigantischen Insulintherapie werden jedes Jahr Milliarden Euro vergeudet. Wenn man die Blutzucker-Selbstmessung früh und intelligent einsetzen würde, könnte man das verhindern.

In welchen Situationen sollten Diabetespatienten mit oralen Antidiabetika ihren Blutzucker selbst messen?

Martin: Auf jeden Fall sollte zu Beginn einer Behandlung gemessen werden. Aber auch unter einer stabilen Therapie können Selbstmessungen indiziert sein, wenn eine akute Erkrankung auftritt oder die Patienten länger nüchtern sind. Außerdem müssen Patienten, die orale Antidiabetika mit Hypoglykämiepotenzial erhalten und als Kraftfahrer tätig sind oder längere Fahrten vor sich haben, regelmäßig ihre Blutzucker prüfen. Das ist so vorgeschrieben, wird allerdings nicht erstattet. Das ist noch ein ungelöstes Problem.

Wann ist es tatsächlich nicht sinnvoll, oral behandelte Typ-2-Patienten selbst kontrollieren zu lassen?

Martin: Wenn der HbA1c im Zielbereich ist, der Patient sich in einer stabilen Lebensphase befindet und sein Gewicht konstant bleibt oder ein bisschen runtergeht, dann sind keine Messungen notwendig. Ich habe aber Patienten, die trotzdem einmal wöchentlich oder einmal täglich messen, um sich an ihre Krankheit zu erinnern oder damit sie wissen, dass sie ihre Krankheit im Griff haben.

Alle schreien nach der individualisierten Therapie. Meistens geht es dabei um Gene, von denen wir kaum etwas verstehen. Hier haben wir tatsächlich die Möglichkeit zur individualisierten Behandlung. Man muss nur die Patienten fragen. Es gibt auch Patienten, die sich, wenn alles stabil ist, gar nicht selbst stechen wollen.

Auf der anderen Seite gibt es auch Hypochonder, die bei jedem erhöhten Wert ihren Arzt kontaktieren - solchen Patienten verbiete ich das Messen. Aber das ist die Ausnahme.

Bei einer intensivierten Insulintherapie ist die Blutzucker-Selbstkontrolle unverzichtbar. Braucht man sie auch für Patienten, die zu einer oralen Therapie ein Basalinsulin erhalten?

Martin: Forensisch muss ich die Patienten eigentlich auffordern, wegen des Hypoglykämierisikos vor jeder Insulinspritze zu messen. Darauf weise ich meine Patienten auch hin. Die Wahrscheinlichkeit, dass bei guter Einstellung etwas passiert, ist aber nicht groß. Deswegen sind Messungen in einer stabilen Phase nicht unbedingt erforderlich.

Gilt das auch für die konventionelle Insulintherapie?

Martin: Theoretisch sind keine Messungen notwendig, weil ja morgens und abends das Gleiche injiziert wird. De facto sollten die Patienten messen, damit sie nicht in die Unterzuckerung kommen. Ich halte die konventionelle Insulintherapie aber für eine völlig unsinnige Therapie.

Wenn man schon Insulin gibt, dann sollte man ein Anpassungsschema anwenden. Die Gefahr ist, dass Patienten bei niedrigen Blutzuckerwerten weniger 30/70-Insulin injizieren, das ist aber nur eine scheinbare Anpassung, weil 70% ja erst innerhalb der nächsten zwölf Stunden wirken.

Welche Voraussetzungen müssen Typ-2-Diabetiker ohne intensivierte Insulintherapie erfüllen, damit Blutzucker-Selbstkontrollen Sinn machen?

Martin: Grundsätzlich kommt jeder dafür infrage. Bedingung ist, dass Patienten oder Angehörige Konsequenzen daraus ziehen können. Oft ist es so, dass der Pflegedienst kommt, misst und ein Mischinsulin spritzt, ohne dass die Messung irgendwelche Konsequenzen hat.

Wichtig ist, die Gesamtsituation des Patienten im Auge zu behalten: Einen 80-jährigen ansonsten gesunden Diabetiker mit einen HbA1c von 7,2 muss ich nicht mit Messungen behelligen. Aber auch bei einem bettlägerigen alten Menschen muss ich den Blutzucker im Maße halten. Sonst nimmt der vielleicht seinen Sulfonylharnstoff, isst aber nichts - und landet dann mit dem Bild eines Schlaganfalls in der Klinik, weil er völlig unterzuckert ist.

Grundsätzlich gilt: Je stabiler der Blutzucker ist, umso weniger Messungen sind erforderlich. In instabilen Phasen und Krisen muss öfter gemessen werden.

Welche Pflichten hat der Arzt, der die Blutzucker-Selbstkontrolle verordnet?

Martin: Zwei Dinge: Erstens, er muss seinen Patienten sagen, wann sie messen sollen, nämlich vor dem Essen und eineinhalb Stunden danach. Wenn die Patienten fünf Minuten nach dem Essen messen, ist das völlig unsinnig. Zweitens muss der Arzt die Werte ansehen und die Behandlung dann entsprechend anpassen.

Wir haben in diesem Gebiet eine Menge Fehlversorgung - also Patienten, die unsinnig viel messen -, aber auch Unterversorgung, weil viele Patienten gar nicht messen.

Was sollten die Patienten außer Messzeit und Messwert dokumentieren?

Martin: Die Patienten sollen möglichst viel aufschreiben. Am liebsten sind mir Tagebücher mit Kaffeeflecken drin. Sehr sterile Notizen wecken den Verdacht, dass da im Nachhinein komponiert wurde. So ein Tagebuch muss nicht lebenslang geführt werden, kurz vor dem Arztbesuch reicht.

Aber damit ich den Patienten beraten kann, muss ich seinen Tagesablauf sehen und wissen, was und wie viel gegessen wurde. Manche Patienten kommen dann und sagen: ,Ich habe gesündigt‘. Aber Sünden fallen nicht in meinen Zuständigkeitsbereich, ich bin nur Berater.

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