Prävention

Zeit für aggressive Maßnahmen

Es wird viel geschwätzt, aber wenig getan. Zeit für aggressive Weichenstellungen in der Diabetes-Prävention, meinen Fachleute. Sie fordern die Lebensmittel-Ampel und Steuern auf ungesunde Produkte.

Dr. Thomas MeißnerVon Dr. Thomas Meißner Veröffentlicht:
Die epidemische Welle der überwiegend lebensstilbedingten Krankheiten Diabetes und Adipositas wird immer größer.

Die epidemische Welle der überwiegend lebensstilbedingten Krankheiten Diabetes und Adipositas wird immer größer.

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Nichts wollten die Menschen lieber erhalten als ihre Gesundheit, es gebe aber auch nichts, was sie weniger pflegten, schrieb im 17. Jahrhundert der französische Moralist Jean de La Bruyère (1645-1696). Das gilt bis heute: Viel wird über Prävention von Diabetes und Adipositas geredet. Doch die epidemische Welle dieser überwiegend lebensstilbedingten Krankheiten wird immer größer: Jeder zehnte Bundesbürger ist nach neuesten Erhebungen diabeteskrank, im Osten Deutschlands sogar jeder achte.

Warum greifen Präventionskonzepte nicht? Weil sie zu verkopft sind. Weil sie mit Verzicht assoziiert werden. Weil Politiker nicht bereit sind, aggressive Weichenstellungen vorzunehmen: So könnte man zusammenfassen, was Professor Peter E. Schwarz und Patrick Timpel vom Universitätsklinikum der TU Dresden sowie Professor Rüdiger Landgraf von der Deutschen Diabetes Stiftung in München im Gesundheitsbericht 2017 konstatieren. Sie sagen: Prävention muss Spaß machen, Angebote können verständlich, einfach erreichbar und sofort nutzbar sein. Und sie fordern drastische Eingriffe des Gesetzgebers in die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln.

Schwarz, Timpel und Landgraf betrachten das "Produkt Prävention" aus der Marketing-Perspektive. Das Trinken von "braunem Zuckersaft", also Cola, werde in der Werbung mit dem Gefühl von "Happiness" und "Coolness" verbunden. Eine Präventionskampagne dagegen spricht Verbraucher nur auf rationaler Ebene an. "Wir müssen hin zu Marketing und Maßnahmen, die genauso emotional sind wie die Kampagnen von Coca-Cola", schreiben die Autoren. Ansonsten bleibe Prävention für die meisten unattraktiv.

Präventionsangebote im Test

Kann man das ändern? Ja, heißt es in dem Kapitel zum Gesundheitsbericht. Geradezu ideal sei die Umgebungssituation in Zeiten von Mobile Health und sozialer Netzwerke. So hat eine Arbeitsgruppe am Universitätsklinikum Dresden verschiedene Präventionsangebote bei einer repräsentativen Gruppe Dresdner Bürger getestet. Gewinner war eine App namens AnkerSteps.

Der Nutzer der App wettet einen reellen Geldbetrag pro Tag darauf, täglich 10.000 Schritte zu laufen. Erreicht er das Ziel nicht, verliert er seinen Einsatz. Erreicht er das Ziel, behält er den Einsatz und bekommt obendrauf noch einen Gewinn. Bei 70 Prozent der Teilnehmer hat das funktioniert, sie hatten pro eingesetztem Euro einen Gewinn von bis zu 3,80 Euro erreicht. Das Auszahlen der Gewinne oder das Einziehen der Verlustbeträge erfolgt automatisch über PayPal. Mehrere Motivationsstrategien werden mit der App verfolgt.

Erstens motiviert ein drohender Verlust stärker als ein potenzieller Zugewinn. Die Kombination mit der Chance auf einen Gewinn verstärkt diesen Effekt. Zusätzlich bietet die App Expertentipps zur Gesundheit, die Aha-Effekte auslösen sollen. Des Weiteren wird dargestellt, wie viele Schritte die Freunde aus der Peer-Group laufen. Das löst einen Wettbewerb aus. Hinzu kommt schließlich die soziale Unterstützung aus der Gruppe. Bei alldem ist der eigentliche Gesundheitseffekt für die Anwender – die tägliche Bewegung – fast schon Nebensache.

Geringes Interesse an Prävention

Eine App ist natürlich nichts für jeden. Sie ist zwar ein Beispiel dafür, wie ein niedrigschwellig erreichbares, günstiges und alltagstaugliches Produkt positiv erlebte, gesundheitsfördernde Effekte auslösen kann. Das allein wird aber kaum maßgebliche Wirkungen auf Bevölkerungsebene auslösen. Ähnlich gelagerte, breiter angelegte Projekte auf elektronisch-digitaler Basis sind längst angedacht, etwa bei der Deutschen Diabetes Stiftung, erklärt ihr Vorsitzender Professor Hans Hauner von der TU München gegenüber der "Ärzte Zeitung". Um diese evaluieren und implementieren zu können, brauche es allerdings finanzielle Förderer. Doch das Interesse potenzieller Geldgeber an Diabetes-Prävention sei sehr gering, so Hauner. Manch gute Idee könne daher nicht umgesetzt werden.

"Wir wissen seit 15 Jahren, wie wir Typ-2-Diabetes verhindern können. Aber unter den gegenwärtigen Bedingungen dieses Gesundheitssystems ist Diabetes-Prävention nicht möglich", sagt Hauner. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Jetzt in die Prävention investiertes Geld wird sich frühestens in fünf bis zehn Jahren auszahlen. Erst dann ließen sich womöglich Präventionserfolge nachweisen – für Geldgeber offenbar eine zu lange Perspektive. Und das Interesse in der Bevölkerung an Diabetes-Prävention ist ebenfalls gering, trotz erschreckend hoher Prävalenzen, die regelmäßig kommuniziert werden. "Es fehlt das Bewusstsein dafür, selber etwas tun zu können und zu müssen."

Toxisches Lebensmittelumfeld

Letztlich braucht es abgestimmte Projekte, die einen individualisierten Zugang aus den Zielgruppen ermöglichen. Hauner: "Benötigt werden möglichst verschiedene attraktive Präventionsansätze." Nach den Vorstellungen der Deutschen Allianz nichtübertragbarer Krankheiten (DANK) sind das folgende:

  • in Kita und Schule täglich mindestens eine Stunde Bewegung/Sport treiben;
  • verbindliche Qualitätsstandards für die Kita- und Schulverpflegung festlegen;
  • an Kinder gerichtete Lebensmittelwerbung verbieten;
  • adipogene Lebensmittel besteuern, gesunde Lebensmittel entlasten.

"Die Zeit ist reif, durchaus aggressiv das Ändern von Weichenstellungen einzufordern", erklären Schwarz, Timpel und Landgraf. Sie formulieren vier Forderungen an politische Entscheider. So solle die Nahrungsmittelindustrie für unerwünschte Wirkungen ihrer Produkte auf die Gesundheit haftbar gemacht werden können. Denn Menschen in Industrienationen lebten in einem geradezu toxischen Nahrungsmittelumfeld. Es müsse gar nicht einmal zu Gerichtsverhandlungen kommen, weil die Industrie juristische Risiken einer Haftung einpreisen würde. Dadurch würden die Preise für ungesunde Produkte steigen, deren Verkauf womöglich zurückgehen und ein Anreiz existieren, gesunde Produkte zu entwickeln, spekulieren die drei Autoren.

Boni für gesundes Verhalten

Zweitens sprechen sie sich für das Ampelsystem zur Kennzeichnung von Nahrungsmitteln aus. Denn derzeit sei Expertenwissen notwendig, um mithilfe der Nahrungsmittelkennzeichnung gesunde von ungesunden Produkten unterscheiden zu können. Grün würde bedeuten: für den täglichen Verzehr geeignet, gelb: einmal wöchentlicher, rot: etwa einmal monatlicher Verzehr.

Drittens greifen die Autoren die alte Forderung des "Club of Rome" nach einem Bonussystem für den Kauf gesunder Produkte und für gesundheitsförderndes Verhalten auf. Mit elektronischen Bonussystemen, vergleichbar jenen, wie sie in Supermärkten angeboten werden, ließe sich die Liquidität im Gesundheitssektor um bis zu 30 Prozent erhöhen. "Eine attraktive Wirtschaftsförderungsmaßnahme", meinen Schwarz, Timpel und Landgraf.

Und schließlich schlagen sie vor, Geschäftsmodelle zur Prävention von Steuern zu befreien. Denn derzeit sei ein Investment in Prävention ökonomisch nicht attraktiv. Eine Steuerbefreiung würde das Interesse von Investoren heben. Dies wiederum könnte das Angebot, die Verfügbarkeit und den Konsum von Präventionsprodukten steigern.

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