Nicht nur auf Tabletten setzen

Diabetes ist ein "Walking Deficiency Syndrome"

Von Professor Stephan Martin Veröffentlicht:
Wenig bewegen, falsch Essen: Typ-2-Diabetes ist primär auf einen ungesunden Lebensstil zurückzuführen.

Wenig bewegen, falsch Essen: Typ-2-Diabetes ist primär auf einen ungesunden Lebensstil zurückzuführen.

© Digital Vision. / Getty Images / Thinkstock

Der renommierte britische Arzt Sir Muir Gray hat kürzlich in einem Interview mit der Tageszeitung "Daily Mail" den Typ-2-Diabetes als "Walking Deficiency Syndrome" bezeichnet. In dem Gespräch meinte er auch, dass er Begriffe wie Typ-2-Diabetes oder metabolisches Syndrom unglücklich findet: "They make you think it's like rheumatoid arthritis or a real disease." Er aber führt Typ-2-Diabetes primär auf einen ungesunden Lebensstil zurück. Und dagegen müsse man vermehrt vorgehen.

Professor Stephan Martin ist Chefarzt für Diabetologie und Direktor des Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums (WDGZ)

Professor Stephan Martin ist Chefarzt für Diabetologie und Direktor des Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums (WDGZ)

© privat

Nicht-medikamentöse Therapien des Typ-2-Diabetes haben ein enormes Potenzial, die in der Vergangenheit unterschätzt wurden. Noch vor zehn Jahren wurde man von Experten in diabetologischen Kreisen belächelt, wenn man von "Remissionen des Typ-2-Diabetes" gesprochen hat. Auch heute noch wird Typ-2-Diabetes gerne eine "chronisch-progrediente Erkrankung" genannt, die schicksalhaft voranschreitet. Die Arbeiten des Teams um Professor Roy Taylor aus Newcastle in England haben hier zumindest international zu einem Umdenken geführt. Sie konnten zeigen, dass eine achtwöchige Fastenkur mit nur 600 kcal täglich 89 Prozent der Patienten mit Typ-2-Diabetes in eine klinische Remission führen kann, wenn der Diabetes weniger als vier Jahre besteht (Diabet Med 2015; 32:1149). Bei einer Diabetesdauer von über acht Jahren lag die Remissionsrate immerhin noch bei 50 Prozent. Die Forscher überprüfen die Ergebnisse jetzt im multizentrischen Diabetes Remission Clinical Trial (DiRECT) in einer größeren Population (BMC Fam Pract 2016; 17: 20).

Eine ganz aktuelle Studie aus Kanada zeigt ebenfalls bei Personen mit einer Typ-2-Diabetes-Dauer von unter drei Jahren Remissionsraten bis zu 50 Prozent durch Lebensstiländerungen (J Clin Endocrinol Metab 2017; 102:1596). Aber auch in späten Phasen des Typ-2-Diabetes gibt es Hoffnung für Betroffene. Das zeigt eine aktuelle randomisiert-kontrollierte Studie, die wir mit dem Deutschen Institut für Telemedizin und Gesundheitsförderung (DITG) durchgeführt haben (Diabetes Care 2017, online 12. Mai). Teilnehmer waren Patienten, bei denen der Typ-2-Diabetes im Mittel elf Jahre bekannt war und deren HbA1c im Mittel bei 8,2 Prozent lag. Obwohl diese Patienten bereits mit zwei verschiedenen oralen Antidiabetika oder in Kombination mit Insulin behandelt wurden, führte das Telemedizinische Lifestyle Programm (TeLiPro) zu einer HbA1c-Absenkung von über einem Prozentpunkt in der Behandlungsgruppe. Zusätzlich konnten Antidiabetika reduziert und die Insulindosis halbiert werden. Außerdem: Die wirkliche HbA1c-Senkung der TeLiPro-Intervention wurde durch die Medikamentenreduktion maskiert.

Als es noch möglich war Patienten mit entgleistem Typ-2-Diabetes stationär in spezialisierten Abteilungen zu behandeln, wurde prinzipiell das Gleiche gemacht. Oft hat man den Patienten nur auf gesunde Kost gesetzt und sie täglich an einem Bewegungsprogramm teilnehmen lassen. Nach 14 Tagen wurden die Patienten meist mit besseren Blutzuckerwerten und weniger Medikamenten entlassen.

Es wäre daher wichtig, das Thema Typ-2-Diabetes im Sinne von Sir Muir Gray kritisch zu hinterfragen. Kommt man zu dem Schluss, dass es eine Erkrankung wie eine rheumatoide Arthritis ist, dann werden wir bald die meisten Patienten mit drei bis vier Antidiabetika behandeln und amerikanische Verhältnisse mit Insulindosen von über 500 IE am Tag erreichen. Sehen wir Typ-2-Diabetes aber als "Walking Deficiency Syndrome" müssen wir in unserem Gesundheitssystem Strukturen wie zum Beispiel TeLiPro schaffen, die uns Ärzte bei der Lebensstil-Änderung unserer Patienten unterstützen.

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