Geriatrie

"Der Diabetes-Tsunami droht uns zu überrollen"

Einen Diabetes-Tsunami wollen Diabetologen unbedingt verhindern. Doch die anrollende Welle ist bereits jetzt größer als befürchtet. Das gilt besonders, wenn es um die Situation bei Diabetes und Pflege im Alter geht.

Dr. Thomas MeißnerVon Dr. Thomas Meißner Veröffentlicht:
"Der Diabetes-Tsunami droht uns zu überrollen"

© AMELIE-BENOIST / BSIP / mauri

Superlative im Zusammenhang mit der Diabetes-Epidemie in den Industrieländern sind wir inzwischen gewöhnt. Inzwischen fehlt es an rhetorischen Steigerungsmöglichkeiten. Diese bräuchte es jedoch, wenn es um Diabetes und Pflege im Alter geht. Denn jüngste Daten aus Deutschland verdeutlichen, dass es leider noch schlechter um die Gesundheits- und Versorgungslage bestellt ist als bislang gedacht. Im "Deutschen Gesundheitsbericht Diabetes 2018" bemühen zwei Mitglieder der AG Geriatrie und Pflege bei der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), Privatdozent Andrej Zeyfang aus Ostfildern-Ruit und Dr. Jürgen Wernecke aus Hamburg, einmal mehr das Bild einer Naturkatastrophe, um die Dringlichkeit notwendigen Handelns zu unterstreichen: Es sei eine "breite Anschubunterstützung und Förderung durch die Gesundheitspolitik vonnöten", erklären Zeyfang und Wernecke, um einen Wandel vollziehen zu können, "bevor uns der Diabetes-Tsunami im Alter überrollt".

Dass das kein billiger Alarmismus ist, offenbart ein Blick auf die Zahlen. Es gilt inzwischen als gesichert, dass jeder zehnte GKV-Versicherte in Deutschland diabeteskrank ist – in manchen Gegenden Deutschlands mehr jeder achte! Zum einen ist das ein Effekt des steigenden Durchschnittsalters in der Bevölkerung, zum anderen des Lebensstils. Sei Diabetes früher mal eine Krankheit der Reichen gewesen, die sich zucker- und fetthaltige Lebensmittel leisten konnten, sei es heute umgekehrt, so Benjamin Goffrier vom Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung, der mit seinen Kollegen Daten von rund 70 Millionen Kassenpatienten ausgewertet hat. Es sind heute die sozial Schwachen und Unterprivilegierten, die sich möglichst billig, respektive fett- und zuckerreich, ernähren und die andere Probleme haben, als sich um ausreichend Bewegung und gesunde Ernährung zu kümmern.

Und so spiegeln beim Blick in den Erdkunde-Atlas der regionale Altersdurchschnitt und der Grad des Wohlstands die deutsche Diabetes-Realität wider: Die bundesweit wenigsten Diabetes-Patienten leben in Schleswig-Holstein, Hamburg und Baden-Württemberg mit Anteilen von jeweils etwa 8,5 Prozent, während in allen neuen Bundesländern die Prävalenz um 12 Prozent liegt. Dort ist auch der Verbrauch an Insulin und oralen Antidiabetika besonders hoch, wie die Auswertungen von zwei deutschlandweiten Registern (DPV – Diabetes-Patienten-Verlaufsdokumentation; DIVE – Diabetes-Versorgungs-Evaluation) bestätigen. Um es noch kontrastreicher zu machen: Im Kreis Starnberg bei München leiden 6,5 Prozent der Versicherten an Diabetes, im brandenburgischen Prignitz sind es 14,2 Prozent.

Tod und Sterben hat in Deutschland ebenfalls maßgeblich etwas mit Diabetes mellitus zu tun: Im Jahre 2010 war man noch von 23.000 diabetesbedingten Sterbefällen ausgegangen. In Wirklichkeit beträgt die Exzess-Mortalität 175.000 Todesfälle pro Jahr, allein Typ-2-Diabetes ist für 138.000 Todesfälle verantwortlich. Das hat die Arbeitsgruppe um Privatdozent Wolfgang Rathmann vom Deutschen Diabetes-Zentrum (DDZ) in Düsseldorf herausgefunden. Damit sind 21 Prozent aller Sterbefälle in Deutschland mit Diabetes assoziiert, 16 Prozent mit Typ-2-Diabetes (Diabetes Care 2017; 40: 1703).

Die meisten Diabetes-bezogenen Todesfälle treten im Alter zwischen 70 und 89 auf. Dem gehen jahrelange Leiden voraus: kardiovaskuläre Krankheiten, Nierenfunktionsstörungen, chronische Wunden, Infektionen, Amputationen, Sehstörungen, Gebrechlichkeit, Demenz (...) – womit wir beim Thema Pflege wären.

2,89 Millionen Menschen in Deutschland waren im Jahre 2015 im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes (SGB XI) pflegebedürftig. Etwa 900.000 Menschen aus dieser Gruppe litten an einem Diabetes mellitus, so Zeyfang und Wernecke im Gesundheitsbericht. Weil drei von vier Pflegebedürftigen zu Hause versorgt werden, müsse man von knapp 630.000 häuslich versorgten Pflegebedürftigen mit einer Diabetes-Erkrankung ausgehen, rechnen die Geriater vor. "Davon werden 420.000 durch Angehörige und etwa 210.000 durch einen ambulanten Pflegedienst versorgt." Hinzu kommen etwa 230.000 Pflegeheim-Bewohner, die an einem Diabetes mellitus leiden.

Individualisierte Therapien nötig

Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass diese Zahlen in den kommenden Jahren stagnieren werden. Im Gegenteil! Erschwerend kommt hinzu, dass die Bevölkerungsgruppe älterer Diabetes-Patienten aus medizinischer Sicht sehr heterogen ist. Das erfordert zwangsläufig einen individualisierten Behandlungsansatz, der die Besonderheiten alter Menschen mit Diabetes berücksichtigt, sprich: vergleichsweise viele Ressourcen bindet.

Welche Besonderheiten sind das? Zunächst einmal ist die Flüssigkeitsaufnahme wegen des verringerten Durstempfindens im Vergleich zu jüngeren Patienten weniger ausgeprägt. Bei Blutzuckerwerten oberhalb von 200 mg/dl resultiert daraus eine erhöhte Dehydratationsgefahr, hervorgerufen durch die osmotisch bedingte Diurese. Zweitens nehmen hypoglykämische Episoden im Alter zu, diese werden von den Patienten zugleich weniger gut wahrgenommen. Vermehrt Hypoglykämien erhöhen das kardiovaskuläre Risiko mit den bekannten klinischen Folgen. Drittens sind die alten, mit meist mehreren Krankheiten konfrontierten Menschen schnell überfordert, was das Selbstmanagement ihrer Leiden angeht. Das gilt ganz besonders für den Umgang mit verschiedenen oralen Antidiabetika und mit Insulin, die wiederum nur ein Teil der Gesamtmedikation sind.

Geriater in Deutschland sind sich daher weitgehend einig, dass eine strenge metabolische Kontrolle bei geriatrischen Patienten nicht (immer) sinnvoll ist – allenfalls dann, wenn dies ohne zusätzliche Hypoglykämien erreicht werden kann, wie Privatdozent Heinrich Burkhardt von Zentrum für Gerontopharmakologie in Mannheim in dem von ihm und dem klinischen Pharmakologen Professor Martin Wehling herausgegebenen Buch "Arzneitherapie für Ältere" (Springer-Verlag 2016) schreibt.

Bereits bei einem HbA1c-Wert von unter 8 Prozent seien typische Symptome hyperglykämischer Episoden zu vermeiden, ebenso wie ungünstige Verläufe von Akuterkrankungen, Abgeschlagenheit, Juckreiz oder Polydipsie. Bei funktionell schwer eingeschränkten Patienten, so Burkhardt, sei bereits mit moderater glykämischer Kontrolle das Auftreten und der Verlauf von Dekubitalulzera günstig zu beeinflussen.

Natürlich handelt es sich bei dem HbA1c-Wert von 8 Prozent nur um ein Minimalziel. Burkhardt, Wehling und weitere Autoren schlagen in ihrem oben erwähnten Buch einen Algorithmus zur Behandlung älterer Patienten mit Typ-2-Diabetes vor, der drei Schritte umfasst. Zunächst soll entschieden werden, ob vor dem Hintergrund der Diabetesdauer, des Komplikationsspektrums, der Lebenserwartung, Komorbidität und Gebrechlichkeit eine strenge glykämische Kontrolle angezeigt ist oder nicht. Zweitens wird die Nierenfunktion betrachtet: Liegt die glomeruläre Filtrationsrate unter 60 ml/min? Und drittens: Ist das Hypoglykämierisiko hoch und nicht durch Schulung oder Umfeldmaßnahmen kompensierbar? Je nachdem, ob diese Fragen mit "Ja" oder "Nein" beantwortet werden, resultieren Kategorien, innerhalb derer die metabolische Kontrolle gehandhabt werden kann.

Behandlungsziele ständig anpassen!

Hinweise, welche Antidiabetika für geriatrische Patienten geeignet sind und welche eher weniger oder nicht, gibt die von Wehling und einem Gremium aus Geriatern herausgegebene FORTA (Fit for the Aged)-Liste*. Darin werden indikationsbezogen Arzneimittel mit A (wie absolut geeignet) bis D (ungeeignet) bewertet. "Oberste Priorität hat es, schwere Hypoglykämien zu vermeiden, aber auch chronische Hyperglykämien", so Zeyfang zur "Ärzte Zeitung". Beides habe erheblichen Einfluss auf das Nachlassen der kognitiven Leistungsfähigkeit und weitere Aspekte der Lebensqualität. Es gilt also Untertherapien ebenso wie potenziell schädliche Medikamente zu vermeiden.

Die Herausforderung liegt besonders dahin, im Krankheits- und Lebensverlauf die Behandlungsziele immer wieder kritisch analysieren und anpassen zu müssen. Und das unter den Bedingungen einer bereits jetzt äußerst angespannten Versorgungssituation sowie pro Jahr etwa einer halben Million Menschen, die neu die Diagnose eines Typ-2-Diabetes erhalten.

*Die FORTA-Liste ist kostenlos unter anderem als App für mobile Endgeräte erhältlich und im Internet unter www.umm.uni-heidelberg.de/ag/forta

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