Interview

Diagnose "MetS" sensibilisiert für Risiko

Ist der Begriff des metabolischen Syndroms heute noch praxisrelevant? Für den Diabetologen PD Dr. Andreas Lechner besteht daran kein Zweifel, denn die Identifizierung eines "MetS" kann den Arzt für ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko seines Patienten sensibilisieren. Dabei müssen nicht zwangsweise alle Komponenten des "tödlichen Quartetts" vorhanden sein.

Von Dr. Elke Oberhofer Veröffentlicht:
Bei Adipositas ist eine Gewichtsreduktion um 5 bis 10 Prozent innerhalb eines Jahres ratsam.

Bei Adipositas ist eine Gewichtsreduktion um 5 bis 10 Prozent innerhalb eines Jahres ratsam.

© Luis Louro / Fotolia.com

Ärzte Zeitung: Herr Dr. Lechner, mit dem Begriff "metabolisches Syndrom" (im Folgenden: MetS) wird oft der Ausdruck "tödliches Quartett" verbunden. Kann man dies noch so stehen lassen oder ist das aus heutiger Sicht zu stark vereinfacht?

Dr. Andreas Lechner: Aus pathophysiologischer Sicht sind die Zusammenhänge viel komplexer. Es sind sehr viele unterschiedliche pathophysiologische Wege, die zu einem erhöhten Herz-Kreislauf-Risiko und zum Typ-2-Diabetes führen. In der Definition eines Syndroms steckt ja eigentlich, dass es sich um eine Krankheitsentität handelt. Die Entstehung des MetS ist aber weiterhin nicht komplett verstanden und läuft bei unterschiedlichen Menschen sicher auch unterschiedlich ab.

Inwiefern hat der Begriff "metabolisches Syndrom" dann überhaupt praktische Relevanz, welchen Sinn hat es, die vier Kriterien – Insulinresistenz, abdominale Adipositas, Dyslipidämie und arterielle Hypertonie – zusammenzufassen?

Lechner: Für die Praxis ist das relevant, denn diese Dinge treten häufig gemeinsam auf und sind eindeutig mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko verbunden. Die Identifizierung eines MetS kann uns für Menschen mit hohem kardiovaskulärem Risiko sensibilisieren, deshalb sollten wir daran denken. Allerdings zeigen keineswegs alle Menschen mit einem hohen Risiko alle Komponenten des MetS.

PD Andreas Lechner

Diagnose "MetS" sensibilisiert für Risiko

© PD Dr. Andreas Lechner

Aktuelle Position: Diabetologe am Klinikum Innenstadt der LMU München

International konkurrieren eine Reihe verschiedener Definitionen des MetS miteinander. Welche ist die mit dem größten Praxisnutzen?

Lechner: Die Definition der Deutschen Diabetes Gesellschaft enthält ausschließlich klinische Parameter: abdominale Adipositas, erhöhte Triglyzeride, niedriges HDL-Cholesterin, Bluthochdruck und erhöhte Nüchtern-Blutglukose. Diese Definition, die im Übrigen identisch ist mit der von NCEP ATP III* und AHA/NHLBI**, ist eindeutig die etablierteste und auch die pragmatischste. Auch deswegen, weil sie sagt, drei aus fünf Kriterien müssen zutreffen, und nicht ein einzelnes als zwingend ansieht.

Unter Umständen kann zum Beispiel auch ein schlanker Mensch ein MetS haben, wenn drei andere Kriterien zutreffen! Die anderen Definitionen unterscheiden sich zumeist nur in den Grenzwerten, zum Beispiel beim Nüchtern-Blutzucker. Manche Definitionen enthalten auch noch einen Wert für Insulinresistenz, die aber relativ kompliziert und kostenaufwendig zu messen ist.

Wie treffen Sie die Entscheidung für eine Therapie oder für präventive Maßnahmen?

Lechner: Als Arzt der Primärversorgung sollte man einen Risikorechner benutzen, um das individuelle Risiko abzuschätzen. Hier kann man zum Beispiel den der European Society of Cardiology verwenden (http://www.heartscore.org/Pages/welcome.aspx).

Wenn man sich diese Risikorechner anschaut, sieht man genau, was über die Komponenten des MetS hinaus entscheidend ist: nämlich Alter, Blutdruck, Geschlecht, Nicht-HDL-Cholesterin, Rauchen und Diabetes. All diese Faktoren sollte man bei der Indikationsstellung für eine Primärprävention berücksichtigen. Aber genau damit tun wir uns in Deutschland schwer: Wir sind gut darin, irgendwelche Krankheiten zu therapieren, aber mit der Primärprävention bei Personen mit hohem kardiovaskulärem Risiko haben wir Probleme.

Welche Basismaßnahmen bringen hier wirklich etwas?

Lechner: Zuerst einmal Lebensstilmaßnahmen: Jemandem mit abdomineller Adipositas sollte man zur Gewichtsreduktion in der Größenordnung zwischen 5 und 10 Prozent innerhalb eines Jahres raten. Hinzu käme eine Steigerung der körperlichen Aktivität: mindestens 30 Minuten täglich an fünf Tagen die Woche.

Der nächste Schritt wäre die Ernährung. Hier empfehlen wir relativ wenig gesättigte Fette wie tierische Fette oder Transfette, zum Beispiel in Margarine, und eher mehr pflanzliche Fette, enthalten zum Beispiel in Olivenöl, Nüssen und Avocados. Man empfiehlt heute keine extreme Fett- oder Cholesterinreduktion mehr; diese hat sich nicht bewährt, der LDL-Spiegel ändert sich dadurch kaum.

Für Kohlenhydrate gilt, dass man sie idealerweise in komplexer Form mit Ballaststoffen aufnehmen sollte, also Gemüse und Vollkorn. Auch Menschen, die keinen Diabetes haben, sollten den Zuckeranteil niedrig halten. Dieser ist vor allem in vielen industriell gefertigten Lebensmitteln versteckt enthalten, auch in solchen, die nicht süß schmecken.

Erreicht man mit diesen Empfehlungen für alle Komponenten des MetS etwas?

Lechner: Ja, zumindest ist das der erste Schritt. Danach kommen die spezifischen Dinge, die auf die einzelnen Komponenten zielen. Richtig gute Evidenz gibt es für den Blutdruck: Ab 140/90 mmHg muss dieser medikamentös behandelt werden. An den anderen Komponenten ändert das zuerst mal wenig. Hier sind nur die Lebensstilmaßnahmen gut etabliert.

Die wirklichen Risikopersonen muss man zusätzlich konsequent mit einem Cholesterinsenker behandeln. Wenn sich aus der Gesamtkombination MetS plus Alter, Geschlecht, Rauchen und LDL-Cholesterin ein relativ hohes kardiovaskuläres Risiko abzeichnet, ist eine medikamentöse Cholesterinsenkung mit einem Statin sinnvoll. Das passiert in Deutschland allerdings immer noch viel zu wenig.

Welches sind die konkreten Richtwerte?

Lechner: Die allgemeine Empfehlung sieht eine Statintherapie ab einem über den Risikokalkulator errechneten 10-Jahres-Risiko für ein kardiovaskuläres Ereignis von 10 bis 15 Prozent vor. Man erreicht damit eine relative Risikoreduktion um etwa ein Drittel.

Welchen tatsächlichen Nutzen der Patient hat, hängt von seinem absoluten Risiko ab. Ist dieses primär sehr niedrig, wird der Patient nur wenig profitieren. Dagegen profitieren die meisten Patienten, die nach den genannten Kriterien ein MetS haben; bei ihnen ist aufgrund ihres hohen kardiovaskulären Risikos eine Statintherapie gerechtfertigt – unabhängig vom Ausgangscholesterin. Es geht bei der Therapieentscheidung hauptsächlich darum, zu fragen, wie hoch ist das Risiko, nicht so sehr darum zu fragen, wie hoch ist das LDL-Cholesterin.

Ist es möglich, ein MetS allein durch Änderung des Lebensstils rückgängig zu machen?

Lechner: In gewissen Grenzen ist das möglich. So etwas sind langfristige Entscheidungen, die man gemeinsam mit dem Patienten treffen muss. Ich erkläre das etwa anhand des Risikorechners: Ich zeige dem Patienten, wie hoch sein Risiko statistisch gesehen ist und wie viel er gewinnt, wenn er etwa jeden Tag eine Tablette mehr schluckt oder sein Gewicht etwas reduziert. Dann kann man gemeinsam entscheiden, was man anstreben sollte.

Welche medikamentösen Maßnahmen sind abgesehen von der Statintherapie sinnvoll?

Lechner: Es gibt sehr gute Evidenz für die Blutdrucksenkung bei Hypertonus und für die Aspirinprophylaxe bei erhöhtem kardiovaskulären Risiko in der Primärprävention. Für andere Dinge, auch für die neuen Medikamente, ist die Evidenz wesentlich geringer. Es ist z. B. fraglich, wie intensiv man den Blutzucker einstellen muss.

Das hat zwar Vorteile, was die Augen und die Nieren angeht, aber für das kardiovaskuläre Risiko ist der Nutzen einer normnahen Blutzuckereinstellung nicht gesichert. Auch die neuen Substanzen zur Cholesterinsenkung haben noch nicht gezeigt, dass sie in der Primärprävention eine Rolle spielen.

Können Sie einige Beispiele nennen?

Lechner: Das gilt zum Beispiel für die PCSK9-Hemmer, für Liraglutid zur Gewichtsreduktion, für Empagliflozin. In der Primärprävention geht es darum, die gut etablierten Maßnahmen auch tatsächlich anzuwenden. Man sollte das umsetzen, was wirklich gute Evidenz hat und auch nicht viel kostet. Für die neuen Medikamente gibt es ein paar Spezialindikationen, aber ich würde davon abraten, sie in der Allgemeinarztsituation einzusetzen!

PCSK9 etwa ist etwas für die familiäre Hypercholesterinämie; das gehört in die Hand von Lipidspezialisten. Und Liraglutid zur Gewichtsreduktion muss der Patient selbst bezahlen, das kann man vielleicht im Rahmen eines Adipositasprogramms einsetzen. In der Allgemeinpraxis sollte man den Patienten immer wieder freundlich, aber bestimmt auf die Basismaßnahmen, etwa den Rauchstopp, hinweisen.

Was gibt es Neues aus der Forschung, was weiß man heute zum Beispiel über die sogenannte systemische Entzündung?

Lechner: Die Tatsache, dass beim MetS eine niedriggradige Entzündung vorliegt, ist schon länger bekannt. Neue Forschungen behandeln die Frage, ob es eine Entzündung auch in den entscheidenden metabolischen Zentren im Gehirn gibt, die im Rahmen von Adipositas beziehungsweise beim metabolischen Syndrom eine Rolle spielt, und vielleicht auch bei der Entstehung von Komplikationen. Das ist aber noch eine offene Frage. Bisher ist es auch noch nicht gelungen, diesen inflammatorischen Zustand therapeutisch anzugehen.

Was wir wissen ist, dass sich die systemische Entzündung unter den geschilderten Lebensstilmaßnahmen reduziert. Aber obwohl wir die entzündliche Komponente über sensible Parameter messen können, erhöht dies nicht die diagnostische Empfindlichkeit für das MetS, das heißt, es bringt keinen Vorteil, wenn man so einen Marker dazu nimmt. Und selbst dann hätte man noch keine spezifische Therapie, von der die Patienten profitieren könnten.

Für die Praxis haben die neuen Forschungsergebnisse also noch keine Relevanz, weder in diagnostischer noch in therapeutischer Hinsicht.

*National Cholesterol Education Program's Adult Treatment Panel III

**American Heart Association/National Heart, Lung and Blood Institute

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