US-amerikanische Studie

Naturvolk am Amazonas mit erstaunlich gesunden Gefäßen

In einer geradezu heroischen Studie haben US-Forscher über 700 Eingeborene der Amazonas-Region zur Calcium-Score-Messung in einen CT-Scanner geschoben. Noch nie wurde ein Volk mit so gesunden Arterien beschrieben.

Philipp Grätzel von GrätzVon Philipp Grätzel von Grätz Veröffentlicht:
Indigene Völker: Vorbilder für gesunden Lebensstil?

Indigene Völker: Vorbilder für gesunden Lebensstil?

© Mirek/Fotolia.com

WASHINGTON DC. Der Stamm der Tsimane lebt in einem abgeschiedenen Teil des Regenwalds im Amazonas-Becken auf dem Staatsgebiet von Bolivien. Es handelt sich um etwa 16.000 Menschen mit vorindustriellem Lebensstil, geprägt durch Jagd, Fischfang, Landwirtschaft und Sammlertätigkeit. Die Tsimane leben sesshaft in annähernd hundert Dörfern, es ist also kein Jäger- und Sammler-Volk.

Der Stamm wird von Anthropologen und Gesundheitswissenschaftlern schon länger in einem Forschungsprojekt begleitet, das eruieren will, welche Lebensstilfaktoren wie stark zu welchen Erkrankungen beitragen. In diesem Rahmen wurden jetzt bei 705 Erwachsenen im (geschätzten) Alter zwischen 40 und 94 Jahren koronare Kalk-Score-Messungen vorgenommen, außerdem zahlreiche andere Risikofaktoren evaluiert, inklusive Serummarker vom LDL bis zum hoch-sensitiven CRP.

Die Ergebnisse, die die Wissenschaftler jetzt bei der Jahrestagung des American College of Cardiology vorstellten und parallel in "The Lancet" veröffentlichten, sind recht beeindruckend (Lancet 2017; online 17. März). Bei 85 Prozent der Teilnehmer fanden sich, basierend allein auf der Kalk-Score-Messung, keinerlei Hinweise für ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko, und bei weiteren 13 Prozent war das Risiko niedrig. Nur 20 der 705 Probanden hatten ein moderates oder hohes Risiko.

Mehr noch: Selbst bei den Probanden im geschätzten Alter von über 75 Jahren hatten 65 Prozent überhaupt keinen Hinweis auf ein erhöhtes koronares Risiko, und nur 8 Prozent hatten Kalk-Score-basiert ein moderates oder hohes Risiko. Das ganze Ausmaß dieses Befundes wird einem erst klar, wenn man ihn mit Kalk-Score-Kohorten in Industrienationen vergleicht. Die Autoren zitieren eine bevölkerungsbasierte US-Kohorte von Erwachsenen zwischen 45 und 84 Jahren, in der jeder zweite ein moderates oder hohes Risiko hatte, und lediglich 15 Prozent hatten rein Kalk-score-basiert gar kein erhöhtes Risiko.

Die Wissenschaftler führen das gute Abschneiden der Tsimane beim koronaren Kalk-Score im Wesentlichen auf den Lebensstil zurück. So sind die Menschen dieses Stamms nur etwa 10 Prozent der Zeit, in der sie wach sind, körperlich inaktiv. Beim US-Durchschnittserwachsenen liege dieser Wert bei über 50 Prozent. Die Tsimane rauchen zudem wenig.

Bei der Ernährung ist der Anteil der Kohlenhydrate mit 72 Prozent sehr hoch, dabei überwiegen ballaststoffreiche Kohlenhydrate wie Reis, Maniok und Nüsse. Die durchschnittliche Aufnahme von Fett beträgt 38 Gramm pro Tag und ist damit sehr niedrig. Gesättigte Fettsäuren machen davon nur 11 Gramm aus, Trans-Fette werden gar nicht konsumiert. Proteine kommen im Wesentlichen von selbst gejagten Tieren und Fischen.

Die niedrigen Kalk-Scores korrespondieren mit einem insgesamt sehr günstigen klinischen Risikoprofil. Unabhängig vom Alter hatte nur rund jeder zehnte einen LDL-Wert von über 3,4 mmol/l (rund 130 mg/dl). Hinweise darauf, dass protektive PCSK9-Mutationen oder andere genetische Faktoren in der Population besonders häufig sind, gebe es nicht. Nur jeder zehnte bis zwanzigste hatte Bluthochdruck, etwa genauso viele waren fettleibig (BMI > 30 kg/m²).

Besonders hervorgehoben wird von den Autoren das Entzündungsprofil in der Laboranalytik. Etwa die Hälfte der Probanden wies einen erhöhten hsCRP-Wert von über 3 mg/l auf, möglicherweise als Folge zahlreicher Infektionen. Höhere hsCRP-Werte korrelierten aber nur schwach mit einem höheren Kalk-Score, und bei anderen Entzündungsparameter, namentlich Blutsenkung, Neutrophile und Interleukin 5 und 10, war die Korrelation mit dem Kalk-Score sogar gegenläufig.

Dies sei völlig anders als in Industrienationen und stelle die These zumindest in Frage, wonach der Nachweis von Entzündung unabhängig vom LDL-Wert mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko korreliere, so die Autoren der Studie.

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