Interview

"Weißkittel-Hypertonie bei Frauen ausgeprägter"

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In der Diagnostik und Therapie vieler Krankheiten gilt es, Geschlechterunterschiede zu beachten. So ist die Weißkittel-Hypertonie bei Frauen ausgeprägter, und Vorhofflimmern geht mit einem höheren Schlaganfallrisiko einher als bei Männern, sagt Professor Vera Regitz-Zagrosek von der Charité Berlin.

Zu hohe Blutdruckwerte. Ist es nur eine Weißkittel-Hypertonie? Mit Hilfe einer 24-Stunden-Blutdruck-Messung lässt sich das klären.

Zu hohe Blutdruckwerte. Ist es nur eine Weißkittel-Hypertonie? Mit Hilfe einer 24-Stunden-Blutdruck-Messung lässt sich das klären.

© Klaro

Ärzte Zeitung: Frau Professor Regitz-Zagrosek, "Frauen sind weder als Ärztinnen noch als Patientinnen im Medizinbetrieb gleichberechtigt", haben Sie im Jahre 2008 bei einer Veranstaltung gesagt. Wie sieht das im März 2012 aus?

Professor Vera Regitz-Zagrosek: Das Statement kann man weitgehend so aufrechterhalten. Frauen stellen zwar mittlerweile die Mehrzahl der Medizinstudierenden. Wenn wir aber auf den Fortschritt in der medizinisch-beruflichen Laufbahn schauen dann hinken die Frauen nach wie vor sehr hinter den Männern her.

Es gibt offensichtlich noch immer Mechanismen, die die Integration von Frauen in die berufliche Laufbahn behindern. Und als Patientinnen erhalten sie in einigen großen Fächern nicht die Aufmerksamkeit, die ihnen nach der Erkrankungshäufigkeit zukommen sollte.

Ärzte Zeitung: Dabei scheint inzwischen Konsens zu bestehen, dass es künftig ohne Frauen und ohne familiengerechte Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen gar nicht mehr gehen wird. Müsste sich das nicht von allein regeln?

Regitz-Zagrosek: Das glaube ich nicht. Warum soll sich irgendetwas von allein regeln?

Ärzte Zeitung: Vielleicht, weil der Druck immer größer wird?

Regitz-Zagrosek: Was wir brauchen sind familienfreundliche Arbeitszeiten ohne das dies Karrierechancen ausschließt! Teilzeitbeschäftigte müssen genauso wie Vollzeitbeschäftigte ihre Weiterbildung in angemessener Zeit absolvieren können. Der Zugang zu spezifischen, meist invasiven Arbeitstechniken darf nicht erschwert werden.

Aus meiner Mentoring-Zeit weiß ich, dass dies Frauen mit dem Argument verwehrt wird, sie würden nicht Vollzeit arbeiten. Ich habe vor einiger Zeit mit dem Chef einer großen chirurgischen Klinik diskutiert, der meinte, es sei völlig unmöglich, Leute, die nur 60 Prozent arbeiten, in den OP-Betrieb zu integrieren.

Natürlich ist es schwieriger, einen Dienstplan zu erarbeiten mit Menschen, die in Teilzeit arbeiten. Aber die meisten Operationen oder Interventionen sind so kurz, dass sie gut auch von Teilzeitarbeitenden ausgeführt werden können.

Ärzte Zeitung: Nun sind die Strukturen an Krankenhäusern seit Jahrzehnten eingeschliffen. An wen richten Sie Ihre Forderungen?

Regitz-Zagrosek: An Gesundheitspolitiker sowie vor allem an die Abteilungsleiter in den Kliniken. Denn sie sind diejenigen, die die Bewerberinnen einstellen und die Dienstpläne schreiben. Sie müssen Rücksicht nehmen auf die Belange derjenigen, die eine Familie gründen und versorgen wollen.

Flexibilität von Arbeitszeiten ist ein sehr wichtiger Punkt in der Diskussion. Man darf nicht Kolleginnen und Kollegen, die Teilzeit arbeiten wollen, als weniger engagiert ansehen! Und die Gesellschaft muss lernen, Frauen in verantwortlichen Positionen zu akzeptieren.

Ärzte Zeitung: Einen höheren Frauenanteil in leitenden Positionen, fordern Sie seit Jahren. Was würde anders laufen, wenn dem so wäre?

Regitz-Zagrosek: Pointiert gesagt: Manche Sitzung würde wohl kürzer ausfallen. Frauen sind häufig pragmatischer als Männer. Sie vermitteln ihren Mitarbeitern einen guten Arbeitsstil und können motivieren.

Das soll nicht heißen, dass Frauen per se die besseren Chefinnen sind oder rein weibliche Teams zu bevorzugen wären. Ich halte eine gute Mischung auf Führungsebenen für günstig, in denen kein Geschlecht mit, sagen wir, weniger als 30 Prozent vertreten ist.

Denn dann nehmen beide Geschlechter mehr Rücksicht aufeinander in ihrer Argumentation, in ihrer Denkweise und es ergibt sich insgesamt ein wesentlich flexibleres und effizienteres Arbeitssystem.

Ärzte Zeitung: Man hat den Eindruck, dass sich Ärztinnen zunehmend organisieren, nicht nur im traditionellen Ärztinnenbund. Es gibt eine "Akademie der Ärztinnen", ein Mentorinnen-Netzwerk der Helios-Kliniken oder "Die Orthopädinnen e.V.". Braucht es solche Netzwerke, um Gegengewichte zur männerdominierten Medizinwelt zu schaffen?

Regitz-Zagrosek: Sie sagen es selbst! Denn die Männer haben bereits solche Netzwerke, und Entscheidungen über Stellenbesetzungen fallen im informellen Austausch miteinander. Gute und sehr gute Leute werden nicht allein aufgrund von Bewerbungsunterlagen eingestellt.

Ärzte Zeitung: Am Institut für Geschlechterforschung in der Medizin bieten Sie unter anderem den Studiengang "Gender Medicine" an. Was kann man dort lernen?

Regitz-Zagrosek: Wir bieten zwei derartige Module innerhalb des Masterstudiengangs "Public Health" an. Lernen kann man dort, wie sich Frauen und Männer in diversen weit verbreiteten Krankheitsbildern unterscheiden, seien es Nieren-, Herzkreislauf- oder neuropsychiatrische Erkrankungen.

Dieses Faktenwissen beruht auf einer systematischen Literaturrecherche von über 10.000 Publikationen. Die Erkenntnisse haben wir auch in dem gerade erschienenen Lehrbuch "Sex and Gender Aspects in Clinical Medicine"* zusammengefasst. Wir vermitteln zudem Kenntnisse und Fertigkeiten, um eine geschlechtsspezifische Analyse durchzuführen.

Ärzte Zeitung: ... es geht also auch um geschlechtsspezifische Studienmethodiken?

Regitz-Zagrosek: Ja, es reicht nicht, in Studien einfach nur die Frauen und Männer zu zählen und das Geschlecht lediglich als Kovariable auszuwerten. Man muss studienmethodisch bereits die Eingangskriterien für Männer und Frauen getrennt definieren. Bei einer Studie zur koronaren Herzkrankheit etwa und mit klassischer Angina pectoris - wie sie im Lehrbuch steht - werde ich ansonsten eine Verzerrung zugunsten der Männer erzeugen.

Wird dies nicht berücksichtigt, werde ich in einer Analyse auch keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen finden, weil Frauen mit sogenannter "atypischer Symptomatik" gar nicht eingeschlossen worden waren.

Ähnliches gilt zum Beispiel auch für Depressionen bei Männern, in denen aggressives Verhalten als Ausdruck der Depression nicht erfasst wird oder für Osteoporose-Studien, in der die Knochendichtemessung nicht auf repräsentative Messwerte für jedes Geschlecht bezogen wird.

Das klingt banal, ist aber in der Vergangenheit nicht immer berücksichtigt worden. Das hat dazu geführt, dass Osteoporose bei Männern tatsächlich lange Zeit unterschätzt worden ist.

Des Weiteren braucht es spezifische statistische Tests, um herausfinden zu können, ob sich die Geschlechter tatsächlich unterscheiden, nach dem für alle möglichen Einflussfaktoren korrigiert wurde.

Ärzte Zeitung: Welches sind denn besonders relevante Beispiele für Geschlechtsunterschiede, die in der Diagnostik und Therapie beachtet werden sollten?

Regitz-Zagrosek: Asthma-Manifestationen zum Beispiel unterscheiden sich alters- und geschlechtsabhängig - die Hintergründe sind weitgehend unklar. Tabak ist für Frauen toxischer als für Männer und die Empfindlichkeit für Lungenkrebs verschieden. Die pulmonale Hypertonie ist bei Frauen häufiger.

Die Wahrnehmung der Symptome eines Myokardinfarkts ist unterschiedlich, Frauen sterben eher an einem ersten Myokardinfarkt als Männer. Männer sterben häufiger am plötzlichen ischämischen Herztod. Die Weißkittel-Hypertonie ist bei Frauen ausgeprägter, weshalb bei ihnen eher mal eine 24-Stunden-Blutdruck-Messung angezeigt ist.

Bei Herzinsuffizienz ist bei Frauen die diastolische Insuffizienz häufiger als die systolische und Vorhofflimmern geht mit einem höheren Schlaganfallrisiko einher als bei Männern. Auch manche Hepatitis-Formen sind geradezu typisch für Frauen.

Leberzirrhosen oder Fibrosen generell verlaufen bei Männern aggressiver. Dagegen sind entzündliche Dickdarmerkrankungen bei Frauen häufiger. Und um ein letztes Beispiel zu nennen: Diabetes mellitus ist bei Frauen ein stärkerer Risikofaktor für Folgeerkrankungen als bei Männern.

Ärzte Zeitung: Sie wollen außerdem geschlechterspezifische Ziele für die medizinische Ausbildung entwickeln. Warum ist das notwendig?

Regitz-Zagrosek: Jeder weiß doch aus der Praxis, dass sich Männer und Frauen in ihren Symptombildern, in der Darstellung ihrer Symptome, im Arzneimittelstoffwechsel, im Umgang mit diagnostischen, therapeutischen und rehabilitativen Verfahren unterscheiden. Das müssen auch die Medizinstudierenden vermittelt bekommen. Wenn sie ein Bewusstsein dafür mit in den Beruf nähmen, wäre das sehr hilfreich.

Das Gespräch führte Thomas Meißner

*Oertelt-Prigione S, Regitz-Zagrosek V (Hrsg.): Sex and Gender Aspects in Clinical Medicine. Springer-Verlag London Ltd. 2012, ISSN 978-0-85729-832-4

Professor Vera Regitz-Zagrosek

Aktuelle Tätigkeit: Seit 2007 Leitung des Instituts für Geschlechterforschung in der Medizin (GiM) an der Charité Berlin.

Werdegang: Professor Regitz-Zagrosek hat in den 1980er-Jahren am Max-Planck-Institut für experimentelle Kardiologie in Bad Nauheim, am Deutschen Herzzentrum München sowie an der University of Madison in Wisconsin, USA, gearbeitet.

Später ging sie an das Deutsche Herzzentrum Berlin. 1991 habilitierte sie sich im Fach Innere Medizin an der Freien Universität Berlin und wurde 1996 zur Professorin an der Humboldt-Universität ernannt.

2003 wurde sie Vize-Direktorin des Center for Cardiovascular Research an der Charité und war Mitbegründerin des GiM, deren Direktorin sie seit 2007 ist.

Engagement: Gründungspräsidentin der International Society for Gender in Medicine (IGM) und der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin (DGesGM) im Jahre 2006.

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