Hochdruck: Evidenz-Fundament wackelt

Wer bisher geglaubt hat, dass die Leitlinien zur Hypertonie auf soliden Evidenzgrundlagen beruhen, wurde auf dem Europäischen Hypertonie-Kongress eines Besseren belehrt. Selbst die Definition des Zielblutdrucks ist unter den Experten umstritten.

Von Jochen Aumiller Veröffentlicht:
Noch viele Fragen zur Blutdruckmessung und antihypertensiven Therapie zu klären.

Noch viele Fragen zur Blutdruckmessung und antihypertensiven Therapie zu klären.

© John Cooke / iStockphoto.com

LONDON. An neuen Leitlinien wird in den USA und in den europäischen Fachgesellschaften derzeit gefeilt.

In den USA erschienen die derzeit geltenden Hochdruckleitlinien (JNC 7) vor neun Jahren Nun hat die Nestorin der US-Hypertonologie, Dr. Suzanne Oparil aus Birmingham, das Leitlinienruder übernommen und in London versichert, dass mit einem Update Ende 2012 zu rechnen sei.

Oberstes Gebot: Nur evidenzbasierte Aussagen sollen erlaubt sein, versicherte Oparil.

Wichtige formale Änderung: Es wird kein systematisches Update üblicher Machart geben, vielmehr werden drei Fragen, die nach Ansicht der Experten den Ärzten besonders viel Kopfzerbrechen bereiten, streng nach der aktuellen Evidenzlage beantwortet:

"Verbessert bei erwachsenen Hypertonikern der Beginn einer antihypertensiven Pharmakotherapie bei spezifischen Schwellenwerten den gesundheitlichen Outcome?". Die Frage ist also, wie früh mit der Therapie begonnen werden sollte.

"Verbessert es den gesundheitlichen Outcome, wenn bei erwachsenen Hypertonikern mit einer Pharmakotherapie spezifische Zieldruckwerte erreicht werden?"

"Unterscheiden sich Antihypertensiva oder antihypertensiv wirkende Substanzklassen bei vergleichbarem Nutzen und Risiko hinsichtlich des gesundheitlichen Outcome?"

Grundsätzliche Frage zu Diagnostik

Ursprünglich erreichten 23 Fragen das Leitlinien-Gremium am Nationalen Gesundheitsinstitut (NHLBI), im nächsten Schritt wurden fünf ausgewählt, schließlich blieben aus budgetären Gründen, wie Oparil anmerkte, nur drei übrig.

Auf die Aktualisierung der europäischen ESH/ESC Leitlinien ging Professor Giuseppe Mancia aus Mailand ein.

Er mahnte zur Klärung bestehender Fragen gleich eine ganze Fülle von Studien an, unter anderem um herauszufinden, welcher Zielblutdruck in den speziellen Subgruppen wie Diabetiker oder Niereninsuffiziente angestrebt werden soll.

Mancia warf auch grundlegende Fragen zur Diagnostik auf: Soll die Diagnose auf dem klinischen gemessenen Druck beruhen oder durch die Selbstmessung oder 24-Stunden-Profil bestätigt werden?

Welche Rolle soll der zentrale Druck spielen? Soll man den Weißkittel-Hochdruck künftig unter Normotension einordnen?

Als besonders umstritten erwies sich der Stellenwert der ambulanten 24-Stunden-Messung (ABM). In den neuen britischen Empfehlungen (NICE, 2011) wird diese Methode als verbindlich festgeschrieben, um die Hypertoniediagnose abzusichern.

Dem wollten sich weder Mancia noch Kongresspräsident Professor Josep Redon aus Valencia, anschließen, die Datenbasis erscheint ihnen nicht schlüssig genug.

Von Fall zu Fall entscheiden

Unsicher ist auch, welche Risikomarker den Weg in die europäischen Leitlinien finden werden. Eindeutige Evidenzen fehlen, so Mancia.

Er warf auch die Frage auf, ob die Leitlinien überhaupt zu dem Streit, welches Diuretikum - Chlortalidon, Indapamid oder Hydrochlorothiazid - zu bevorzugen sei, Stellung beziehen sollten.

Tendenziell verneinte er dies, er möchte diese Entscheidung dem individuellen Fall vorbehalten und die liberale Grundhaltung der Leitlinien beibehalten.

Mancia präsentierte eine Liste von weiteren offenen Fragen wie:

Sollen die Empfehlungen für die Kombinationstherapie auch auf Dreier-Kombinationen ausgedehnt werden?

Sollte man die bisherige Zurückhaltung gegenüber der "Polypille" aufgeben?

Stichwort resistente Hypertonie: Welche Pharmaka sind als vierter, fünfter oder sechster Kombinationspartner geeignet? Und wie steht es mit der Indikation zur interventionellen Therapie? Welche Vorsichtsmaßnahmen sind anzuraten?

Die Debatten in der Hypertonologie, so scheint es, fangen erst richtig an. Jedenfalls bleibt die Londoner Tagung den meisten in Erinnerung; weil vermeintlich sicheres Wissen plötzlich als Hypothesengerüst entlarvt wurde, dem das unerschütterliche Evidenzfundament fehlt.

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