Blutdrucksenkung

Ist 120 das neue 140?

Untersuchungen kommen zu dem Schluss, dass Hypertonie medikamentös stärker vermindert werden sollte als bisher. Sollten Millionen Menschen mehr Blutdrucksenker schlucken? Experten sind sich derzeit uneins.

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BERLIN. Ist 120 die neue 140? Das Ergebnis der "Sprint"-Studie in den USA war im vergangenen Jahr, dass zumindest für bestimmte Bluthochdruck-Patienten ein systolischer Zielwert von 120 günstiger ist als die bisher anvisierten 140.

Seither strömen auch in deutsche Arztpraxen und Kliniken ratsuchende Patienten. "Viele fragen, wann sie nun auf 120 eingestellt werden", sagt Yvonne Dörffel, Leiterin der Medizinischen Poliklinik der Charité in Berlin.

Deutsche Experten sind uneins, in welchem Maße das Ergebnis praxistauglich ist. "Ich sehe nicht, dass das überhaupt bei einer höheren Zahl von Hochdruckpatienten gemacht werden sollte", meint Dörffel.

In Deutschland hat nach Daten des Robert Koch-Instituts (RKI) in Berlin fast jeder dritte Erwachsene Bluthochdruck. Damit verbunden ist ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Schlaganfall, koronare Herzerkrankung und Herzinsuffizienz, aber auch für chronische Niereninsuffizienz und Demenz.

Blutdrucksenkende Medikamente sollten bei allen Patienten mit hohem Herzinfarkt- oder Schlaganfallrisiko eingesetzt werden - unabhängig von ihrem Blutdruck, forderten Mediziner kürzlich in der Fachzeitschrift "The Lancet".

Der Grenzwert von 140 für die Behandlung mit Tabletten sei zu hoch. Die Wissenschaftler hatten 123 Studien von 1966 bis 2015 ausgewertet, an denen insgesamt mehr als 600.000 Menschen beteiligt waren. Einschränkend merken sie unter anderem an, dass die Studien teils nur bedingt vergleichbar waren.

Skepsis in München

Sehr skeptisch äußerte sich der Leiter des Hypertoniezentrums München, Martin Middeke, über die Meta-Analyse: "Man kann nicht alles über einen Kamm scheren. Die Behandlung des Blutdrucks ist immer eine individuelle Therapie."

Dass ein erhöhter Blutdruck ab etwa 115/70 mit einer erhöhten Sterblichkeit einhergeht, sei aus großen Studien schon lange bekannt, erklärt Bernd Sanner, Chefarzt am Agaplesion Bethesda Krankenhaus Wuppertal. "Umgekehrt hat man sich dann gefragt: Wenn man versucht, einen überhöhten Blutdruck zu senken, welcher Zielwert ist dann gesundheitlich sinnvoll?"

Bei der "Sprint"-Studie wurden zwei Behandlungsansätze verglichen: Ein Teil der Patienten erhielt eine intensive Therapie mit einem systolischen Blutdruck unter 120 als Ziel.

Der andere Teil bekam die Standardtherapie, die einen Wert von 140 anstrebt. Mehr als 9300 Menschen wurden einbezogen.

Das im "New England Journal of Medicine" vorgestellte Ergebnis liest sich durchaus beeindruckend: Gut ein Viertel weniger Todesfälle gab es demnach bei intensiver Therapie und ein Drittel weniger kardiovaskuläre Ereignisse wie Herzinfarkt, Koronarsyndrom, Schlaganfall oder Herzinsuffizienz.

Beeindruckend ist allerdings auch die Liste der Einschränkungen - und die der Nebenwirkungen.

Diabetiker ausgeschlosen

Ausgeschlossen wurden Diabetiker, Menschen, die bereits einen Schlaganfall hatten und solche mit symptomatischen Herzkrankheiten, Eiweißausscheidungen und sekundärer Hypertonie, listet Dörffel auf.

Das sind Patienten, deren Bluthochdruck auf einer konkreten Krankheit wie Schlafapnoe oder einem Nierenleiden beruht. "Die primäre Hypertonie, die etwa 90 Prozent der Fälle ausmacht, geht auf genetische Komponenten und vor allem Lebensstilfaktoren zurück." Stress und überhöhter Salzkonsum zählen dazu, Übergewicht, Bewegungsmangel und eine fettreiche Ernährung.

Die verbreitete Ansicht zu den "Sprint"-Ergebnissen sei, dass sich das Drittel weniger kardiovaskulärer Ereignisse vor allem auf Schlaganfälle und Herzinfarkte beziehe, erklärt Dörffel. "Das ist falsch, dabei gibt es keinen deutlichen Unterschied."

Einen Rückgang gebe es vielmehr vor allem bei den Herzschwäche-Zahlen. Genau das sei die Falle im gesamten Konstrukt, betont die Medizinerin.

"Herzschwäche ist in der getesteten Altersgruppe generell eine der Haupttodesursachen - und die Mehrzahl der verwendeten Medikamente sind genau solche, wie man sie auch bei Herzinsuffizienz verwendet", erklärt Dörffel ihre Theorie dazu. Der Schluss liege daher nahe, dass mit der intensiven Therapie sehr gut drohende Herzinsuffizienzen verhindert wurden - die Blutdruckeinstellung hingegen für die verminderte Todesrate eine geringe Rolle spielte.

Unterschiede zwischen Männern und Frauen

Große Unterschiede habe es zwischen Männern und Frauen gegeben, ergänzt Middeke vom HZM. "Insofern muss man genau gucken, wer letzten Endes tatsächlich profitieren kann von einer intensiven Therapie", so sein Fazit. "Man kann das Ergebnis nicht verallgemeinern."

Nach Dörffels Einschätzung sollten die angestrebten Werte für die meisten Patienten mit hohem kardiovaskulären Risiko unverändert bleiben - zumal beim Ziel 120 ein Absacken auf gefährlich niedrige Werte drohe.

"Das kam hochsignifikant häufiger vor.". Die intensiv therapierten Patienten seien häufiger ohnmächtig geworden, ihr Elektrolythaushalt sei öfter gestört gewesen, es habe mehr Fälle von Nierenversagen gegeben. Dörffel: "Das ist lebensgefährlich."

Bisher schauen Blutdruckpatienten in Deutschland alle drei bis sechs Monate beim Arzt vorbei und nehmen nach kurzem Beratungsgespräch ein neues Rezept mit.

"Mit einem Ziel von 120 werden monatliche Kontrollen nötig, weil die Nebenwirkungen größer sind", sagt Sanner. Für die ohnehin schon vollen Praxen sei das eine große Herausforderung. "Dieser Einsatz lohnt aber", ist er überzeugt.

Für sinnvoll hält er eine Anpassung auf einen Zielwert von 120 bei einem Teil der über 75 Jahre alten Blutdruckpatienten und bei Menschen über 50 mit kardiovaskulären Risiken. "Das ist schon ein relevanter Teil, bestimmt 30 bis 40 Prozent aller Patienten." Allerdings müsse jeder Fall einzeln entschieden werden. (dpa)

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