HINTERGRUND

Apoplex - wer denkt daran bei Babys, die anders strampeln als sonst?

Von Nicola Siegmund-Schultze Veröffentlicht:

An einem Donnerstagmorgen zwei Monate vor seinem dritten Geburtstag wachte der kleine Peter* weinend auf. "Ich dachte an einen Infekt", erinnert sich seine Mutter Beate Winterfeldt*. Im Lauf des Tages fiel ihr auf, daß Peter die Treppen nicht mehr allein gehen und nicht mehr Dreirad fahren konnte. Zwischendurch schlief er tief und fest. Als der Junge aber am nächsten Tag plötzlich mit offenen Augen dalag und nicht mehr ansprechbar war, fuhr die Familie mit ihm ins Krankenhaus. Rasch stand fest: Peter hatte einen Schlaganfall. Ursache war die Verengung einer Hirnarterie.

Peter ist eines von etwa 600 Kindern und Jugendlichen, die jährlich in Deutschland einen Schlaganfall bekommen. Bei Kindern wird etwa die Hälfte der Schlaganfälle durch eine akute Ischämie hervorgerufen, die andere Hälfte durch Hämorrhagien.

Bei jungen Menschen mit Schlaganfall vergeht noch mehr Zeit als bei Erwachsenen, bis ein Arzt Betroffene sieht: 5,6 Stunden waren es durchschnittlich in einer US-amerikanischen Studie mit zwölf Schlaganfallpatienten unter 17 Jahren. Im Durchschnitt vergingen 23 Stunden, bis die Kinder eine infarktspezifische Therapie erhielten.

Bei Kindern ist eine Lysetherapie selten indiziert

"Das ist in Deutschland ähnlich", sagte Professor Ulrike Nowak-Göttl von der Kinderklinik der Uni Münster zur "Ärzte Zeitung". "Aber es gibt in der Therapie zwischen Erwachsenen und Kindern einen bedeutenden Unterschied: Das für die Lysetherapie bei Erwachsenen kritische Zeitfenster von drei Stunden ist für die meisten Kinder nicht relevant. Bei Kindern mit ischämischem Insult ist die Thrombolyse unseres Erachtens nur sehr selten indiziert, das Blutungsrisiko ist viel zu hoch", so die Expertin für Schlaganfälle bei Kindern. Eine Indikation für eine Lyse bei Kindern könne ein thromboembolisches Ereignis mit kardialer Grunderkrankung als Ursache für den Schlaganfall sein.

Schlaganfälle machen bei Kindern ähnliche Symptome wie bei Erwachsenen, sind aber oft schwerer erkennbar. Dennoch: Bei mehr als 90 Prozent der betroffenen Kinder in Deutschland werde die Diagnose innerhalb von zwölf Stunden richtig gestellt, so Nowak-Göttl.

Ataxien bei Kleinkindern werden oft fehlinterpretiert

Frühdiagnosen gibt es fast ausschließlich bei dramatischen Krankheitszeichen, zum Beispiel Bewußtseinsverlust. Säuglinge haben oft nur leichte Anpassungs- und Bewegungsstörungen, die sich schwer diagnostizieren lassen. Im Alter von drei bis vier Monaten kann sich ein Schlaganfall durch einseitiges Greifen und Strampeln äußern, was oft als frühe Dominanz einer Gehirnhälfte fehlinterpretiert und erst später als Halbseitenlähmung erkannt wird.

Auch bei Kleinkindern werden typische Zeichen wie Bewegungsstörungen (bei 40 bis 60 Prozent der Betroffenen) oft fehlgedeutet und vor allem, wenn sie einen Sturz auslösen, als Folge einer Verletzung durch diesen Sturz eingestuft. Kopfschmerzen, ebenfalls ein Frühwarnzeichen, treten bei 20 bis 40 Prozent auf, ohne daß die Kinder zwangsläufig heftigste Beschwerden äußern. Ebenso werden Sprachstörungen oder andere Verhaltensänderungen beobachtet.

Ursache für ischämische Insulte bei Kindern kann eine genetisch bedingte erhöhte Gerinnungsbereitschaft sein, die zu Thrombembolien führt. Aber auch Gefäßstenosen, etwa durch angeborene Störungen der Arterienwände, bedeuten ein erhöhtes Thrombembolie-Risiko. Ebenso können angeborene Herzfehler sowie Entzündungen der Blutgefäße eine Ischämie verursachen.

Bei Verschluß einer größeren Arterie kann der Thrombus operativ entfernt werden. Sonst werden zur Therapie und Prophylaxe bei venösen oder arteriellen Thrombosen Heparine angewendet, Cumarine oder ASS.

Hirnblutungen bei Kindern sind meist Folge von verletzten oder geplatzten Blutgefäßen. "Eine hämorrhagische Infarzierung nach einem ischämischen Insult, wie sie bei Erwachsenen auftreten kann, kommt bei Kindern nicht vor." Behandelt wird meist operativ.

Kinder mit Schlaganfall haben zwar im allgemeinen eine bessere Prognose als Erwachsene, so Nowak-Göttl. Dennoch entwickeln sich nur drei von zehn betroffenen Kindern normal. Es können Hemiplegien und Störungen der Feinmotorik zurückbleiben, aber auch Schwächen der geistigen Leistungsfähigkeit. "Es gibt bislang kaum prospektive Studien, in denen untersucht worden wäre, wie sich die Kinder nach verschiedenen Therapien im Langzeitverlauf entwickelt haben", bedauert Nowak-Göttl.

Peter ist jetzt in der Pubertät: "Er ist gesund, er hat möglicherweise eine Lese-Rechtschreibschwäche, aber wir denken nur noch selten an seinen Schlaganfall", sagt die Mutter. Die Ursache der Gefäßverengung wurde nie gefunden. Sie ist seit Jahren mit bildgebenden Verfahren auch nicht mehr sichtbar.

* Namen von der Redaktion geändert



FAZIT

Auch Kinder können Schlaganfälle bekommen. Jährlich trifft es in Deutschland 600 Kinder. Weil das Ereignis so selten ist, werden Symptome wie Hemiplegie, obwohl sie typisch für einen Schlaganfall sind, oft fehlinterpretiert.

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