Neuer Wirkstoff

Ein kleines Molekül stoppt Masern

Ein neues Molekül könnte bald Masern bei Ungeimpften stoppen. Zumindest bei Tieren klappt das ganz gut - mit einer Tablette und bei einem Masern-ähnlichen Virus.

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Paramyxoviridae: Ein neuer Wirkstoff könnte im Kampf gegen kleine Masern-Epidemien helfen.

Paramyxoviridae: Ein neuer Wirkstoff könnte im Kampf gegen kleine Masern-Epidemien helfen.

© Sebastian Schreiter / Springer Verlag

ATLANTA/LANGEN. Das Jahr 2014 hat schlecht angefangen: Wieder werden zahlreiche Masernerkrankungen gemeldet. Und dieses Jahr könnte das vergangene sogar noch in den Schatten stellen. In den ersten drei Monaten 2014 lag die Zahl der Erkrankten mit 86 sogar höher als in den ersten drei Monaten des letzten Jahres - damals waren es 62 gewesen. Fast ausschließlich betroffen sind ungeimpfte Menschen.

Doch ein Durchbruch in der Forschung macht Hoffnung, auch diese Personen in Zukunft vor den Folgen einer Maserninfektion schützen zu können. Denn ein kleines Molekül - das sich als Tablette verabreichen lässt - hat sich jetzt in einem Tierversuch geradezu fabelhaft bewährt. Die Forscher sprechen gar von einer "bahnbrechenden" Entwicklung, warnen aber auch vor übertriebener Euphorie. Tatsächlich befindet sich der Wirkstoff bislang noch im Status der Grundlagenforschung. Und eine Impfung und damit den Schutz der Bevölkerung wird auch dieser Stoff nie ersetzen können.

Der Kandidat, auf dem die Hoffnung ruht, heißt ERDRP-0519. Sein Angriffsziel: die RNA-Polymerase von Morbilliviren. Diese einzelsträngigen RNA-Viren, zu denen auch das Masernvirus gehört, bringen bekanntlich ihre eigene Polymerase mit. Wird sie blockiert, ist das Virus nicht mehr in der Lage, sich zu replizieren. Und genau das tut ERDRP-0519 (Sci Transl Med 2014; 6: 232ra52).

Den Wirkstoff hatten die Forscher aus einer Reihe synthetisch hergestellter Moleküle gegen verschiedene Angriffspunkte beim Masernvirus ausgewählt. Der Stoff musste sich vor allem für eine orale Applikation eignen, eine hohe Permeabilität durch die Zellmembranen aufweisen, und er musste leicht zu produzieren sein. Und am besten sollte der Stoff auch noch leicht, nämlich bei Zimmertemperatur, und lange zu lagern sein.

Versuch mit einem engen Verwandten

All das brachte ERDRP-0519 mit. In-vitro-Versuche mit Zelllinien vom Menschen und Tieren zeigten schließlich sogar eine geringe Zytotoxizität. Der Stoff war für den Versuch geeignet. Als geeignetes Tiermodell fanden die Forscher letztlich Frettchen. Ihr Zellstoffwechsel weist verblüffend viele Ähnlichkeiten mit dem des Menschen auf. Auch in der Influenzaforschung sind die Tiere deswegen sehr beliebt.

Zwar erkranken Frettchen nicht an einer Infektion mit dem Masernvirus, dafür aber an der Hundestaupe, die vom caninen Staupevirus (CDV) ausgelöst wird, ein ganz enger Verwandter des Masernvirus aus der gleichen Gattung - und mit dem gleichen RNA-Polymerase-Komplex. Tragisch für die Mardertiere: Sie überleben die CDV-Infektion praktisch nie.

Im hessischen Langen wurden einige dieser Tiere mit dem Virus infiziert. Am dortigen Paul-Ehrlich-Institut (PEI) arbeitet Dr. Veronika von Messling, die mit ihrem Team an der Studie um den deutschen Biologen Professor Richard Plemper aus Atlanta mitgearbeitet hat.

Für ihren Versuch unterteilten die Forscher die Tiere in drei Gruppen: In der ersten wurde die Therapie prophylaktisch bereits einen Tag vor der Infektion gestartet. Die Tiere der zweiten Gruppe erhielten den Wirkstoff ab dem dritten Tag nach der Infektion, und die dritte Gruppe ging - als Kontrollgruppe - trotz Infektion leer aus.

Für das Therapieregime verabreichten die Wissenschaftler den Tieren zweimal am Tag oral jeweils 50 Milligramm des Wirkstoffs pro Kilogramm Körpergewicht. Die Therapiedauer betrug in den beiden Interventionsgruppen zwei Wochen.

Die schlechte Nachricht zuerst: Die Kontrolltiere entwickelten nach drei Tagen eine Virämie, nach einer Woche Fieber und das typische Exanthem und waren spätestens nach 15 Tagen tot. Allerdings wurde allen Tieren auch das Zehnfache der letalen Dosis (LD50) an Hundestaupeviren intranasal verabreicht.

Vollständiger Schutz vor einer Reinfektion

Nicht viel mehr Glück, aber zumindest einige Tage mehr zu leben hatten die Tiere, die prophylaktisch behandelt wurden. Sie hatten zwar eine geringere Viruslast, starben aber trotzdem - wenn auch erst nach 28 Tagen. Sie lebten also fast zwei Wochen länger als ihre Placebo-Kollegen.

Wirklich großes Glück hatten die Tiere, die nach der Infektion zweimal täglich mit 50 mg/kg ERDRP-0519 behandelt wurden: Sie überlebten, und zwar alle. Die Virustiter in ihrem Serum sanken um nahezu 99 Prozent und die Lymphopenie war wesentlich milder ausgeprägt. Besser noch: Die Forscher fanden bei ihnen eine "robuste humorale Immunantwort", bereits nach einer Woche waren Antikörper gegen das Virus nachweisbar.

Die Tiere waren seitdem vollständig vor einer erneuten Infektion mit dem CDV geschützt. 35 Tage nach der ersten Infektion mussten sie erneut eine zehnfach letale Virendosis ertragen. Doch kein einziges der Versuchstiere erkrankte - eine kleine Sensation.

Einen Wermutstropfen gibt es allerdings: Denn durch die Therapie entwickelten einige der Viren verschiedene Resistenzen in denjenigen Genregionen, die für die RNA-Polymerase kodieren. Die Forscher starteten mit den Rekombinanten weitere Versuche - und sie hatten erneut Glück. Denn keine der getesteten Mutationen führte zu einem aggressiveren Virus. Im Gegenteil war die Virusaktivität sogar abgeschwächt, die Virustiter fielen niedriger aus. Letztlich waren diese Viren durch die Mutation also eher geschwächt worden, sie konnten nicht so mehr so leicht übertragen werden wie ihre Wildtyp-Verwandten.

Die Erfolge dieses kleinen Moleküls sind beeindruckend, doch sie sind bisher schlicht nur Grundlagenforschung. Bis zum klinischen Einsatz werden noch Jahre vergehen. Toxizitätsanalysen müssen durchgeführt werden, der Wirkstoff bei Affen, dann bei Menschen getestet werden. Außerdem muss das Molekül seine Wirkung gegen das Masernvirus auch noch in-vivo beweisen. Und schließlich braucht es große klinische Studien - am besten lang angelegt, um den Masernschutz über einige Jahre nachweisen zu können.

Viele neue Masernerkrankungen in Deutschland

Aber die Hoffnung bleibt, in Zukunft womöglich ein Mittel zur Hand zu haben, das bei Masernausbrüchen ungeimpfte Kontaktpersonen im Prodomalstadium einer Infektion vor der Erkrankung und den potenziell lebensbedrohlichen Spätfolgen schützen kann. Und das scheint bitter nötig, denn Skepsis vor der Impfung oder auch Berichte über mögliche Autismusfolgen der MMR-Schutzimpfung lassen vor allem hierzulande junge Menschen vor der Vakzine zurückschrecken.

Vor allem in Großstädten scheint dieses Phänomen verbreitet zu sein. Die Folgen sind gravierend: geringere Durchimpfungsraten bis hin zur fehlenden Herdenimmunität und letztlich steigende Erkrankungszahlen bis hin zu kleinen Epidemien.

Ein Blick auf die aktuelle Masernkarte des Robert Koch-Instituts (RKI) zeigt dunkle Flecken in Berlin, Hamburg und München. Allein aus der bayerischen Landeshauptstadt meldet das dortige Gesundheitsamt bis Mitte April rund 30 Masernfälle, mit einem Anstieg seit Mitte März. Über 50 Prozent der Betroffenen sind Kinder und Säuglinge. In Kindertagesstätten und Schulen können sie schlimmstenfalls andere Kinder infizieren. Denn Masern sind bekanntlich schon Tage vor den ersten Symptomen wie dem typischen Exanthem ansteckend.

Bereits im vergangenen Jahr war Bayern negativ mit Masernfällen aufgefallen. In ganz Deutschland hatte das RKI 1769 Erkrankungen gezählt - nach gerade einmal 165 Fällen ein Jahr zuvor. Neben Berlin waren vor allem München und viele andere Landkreise im südlichen Bayern betroffen. Rund 790 Masernfälle zählten die Behörden alleine im Freistaat.

Ausbrüche gab es vor allem im Mai und Juni, damals schnellten die Zahlen in die Höhe. Fast jeder zweite Patient musste in die Klinik. Auffallend aber ist vor allem die Tatsache, dass fast 60 Prozent der Betroffenen älter als 15 Jahre waren. Die Experten gehen bei den 15- bis 45-Jährigen von teils gravierenden Impflücken aus. Kaum einer der Betroffenen hatte einen ausreichend Impfschutz.

In Bayern vermuten die Behörden bei den jungen Erwachsenen eine Durchimpfungsrate von nur 80 Prozent, bei den 30-Jährigen sogar nur 48 Prozent. Für eine Herdenimmunität müssten jedoch 95 Prozent der Menschen vollständig immunisiert sein. Für Ausbrüche in solchen Regionen könnte ein Wirkstoff wie der jetzt vorgestellte in Zukunft tatsächlich eine "zweite Waffe" sein, wie es die Forscher selbst nennen. (nös)

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