Brasilien

"Wie Europa während der Pest"

Brasilien im Gesundheitsnotstand: Etwa 1,3 Millionen Menschen sind in dem Land mit dem Zika-Virus infiziert. Schwangere haben Angst, ein Kind mit Mikrozephalie zu bekommen.

Von Pete Smith Veröffentlicht:

FRANKFURT / MAIN. Als Mila Mendonça im vergangenen Jahr ihr zweites Kind erwartete, verlief die Schwangerschaft zunächst völlig normal.

Erst drei Monate vor der Entbindung teilten ihr die Ärzte mit, dass ihr Baby möglicherweise mit einer Behinderung auf die Welt kommen werde.

Nach der Geburt bestätigte sich der Verdacht, das Köpfchen des Babys war deutlich kleiner als das von anderen Neugeborenen.

Mit der Diagnose konnte die junge Mutter zunächst nichts anfangen. Doch was Mikrozephalie bedeutet, sollte sie schnell erfahren.

Mila Mendonça und ihr Mann Rodrigo Gomes wohnen in der brasilianischen Küstenmetropole Salvador, der Hauptstadt des nordöstlichen Bundesstaates Bahia. Seit der Geburt von Gabriel ist nichts mehr, wie es einmal war.

Jeden Tag müssen die Eltern mit ihrem Kind zum Arzt. "Anfangs war ich nur erschöpft", erzählt Mendonça dem britischen Sender BBC, "und weinte mich jede Nacht in den Schlaf."

Gerüchteküche kochte über

Als sich vergangenes Jahr im Nordosten Brasiliens Fehlbildungen bei Neugeborenen häuften, kochte die Gerüchteküche schnell über. Verschmutztes Wasser sei die Ursache, streunende Hunde, die Impfung gegen Röteln.

Im November letzten Jahres teilten die Behörden des Bundesstaates Pernambuco mit, dass in der Region 141 Babys mit Mikrozephalie registriert worden seien, 14-mal mehr als normal. Die Angst wuchs.

"So muss es in Europa während der Pest gewesen sein", sagte die brasilianische Epidemiologin Laura Rodrigues von der London School of Hygiene and Tropical Medicine, die zur Untersuchung der Epidemie in ihre Heimat reiste.

Inzwischen verdichteten sich die Hinweise, dass es einen Zusammenhang mit der Ausbreitung einer seltsamen Infektionskrankheit geben könnte, die ein Virus namens Zika verursache.

Da Mila Mendonça von dem Virus hörte, erinnert sie sich daran, dass auch sie während ihrer Schwangerschaft kurzzeitig an fieberähnlichen Symptomen gelitten und ihrer Ärztin davon erzählt hatte. "Aber damals kümmerte sich niemand um Zika."

Dass eine Infektion mit dem Zika-Virus bei Schwangeren zu Fehlbildungen eines Neugeborenen führen kann, war auch den meisten Medizinern neu. Inzwischen weiß das in Brasilien fast jeder.

Gesundheitsnotstand ausgerufen

In einem nie für möglich gehalten Ausmaß breitet sich das Virus in Süd-, Mittel- und Nordamerika aus. Allein Brasilien, wo die Behörden inzwischen den Gesundheitsnotstand ausgerufen haben, sind 1,3 Millionen Menschen infiziert.

Am 13. Februar will die Regierung Hunderttausende Soldaten einsetzen, die den Einwohnern der am schwersten betroffenen Gebiete beim Mückenschutz helfen sollen (wir berichteten).

Im Vorfeld der Olympiade im August werden sich 266.000 Mitarbeiter der Gesundheitsbehörden verstärkt um die Bekämpfung der Mücken kümmern. 550 Tonnen Pestizide werde man einsetzen, heißt es.

"Wir laufen Gefahr, diese Schlacht zu verlieren", zitierte die Zeitung "O Globo" den brasilianischen Gesundheitsminister Marcelo Castro. "Es ist eine der schlimmsten Gesundheitskrisen, die das Land je erlebt hat."

Seit Oktober vergangenen Jahres wurden in Brasilien 3893 Neugeborene mit Mikrozephalie registriert, 2014 waren es insgesamt nur 147. Jetzt sollen 400.000 Schwangere aus ärmeren sozialen Schichten mit Moskitonetzen und Mückenschutzpräparaten versorgt werden.

16.400 Zika-Infektionen in Kolumbien

In Kolumbien, nach Brasilien am schwersten von der Epidemie betroffen, sind bislang 16.400 Zika-Infektionen gemeldet worden, 1090 bei Schwangeren. Für dieses Jahr rechne man mit 600.000 Infektionen, gab der kolumbianische Gesundheitsminister Alejandro Gaviria an.

Hier wie in anderen südamerikanischen Ländern raten die Behörden Frauen, ihren Kinderwunsch aufzuschieben. Die Tatsache, dass in den katholisch geprägten Ländern Abtreibungen verboten sind, verschärft die Situation für betroffene Frauen.

Laut WHO unterziehen sich in Südamerika jährlich fast 300.000 Frauen einem illegalen und damit riskanten Schwangerschaftsabbruch, wobei 700 den Eingriff nicht überlebten.

Im Leben von Mila Mendonça und Rodrigo Gomes ist inzwischen der Alltag eingekehrt. Angehörige und Freunde unterstützen das Paar bei der Pflege ihres entwicklungsgestörten Sohns.

"Ich werde alles tun, damit es Gabriel gut geht", sagt die Mutter. "Wenn er ein bisschen länger für alles braucht, gut, aber er wird zum Ziel gelangen, zur Schule gehen und glücklich sein." Gabriels Vater dankt Gott, dass er und seine Frau es sich leisten können, ihren Zweitgeborenen dauerhaft zu pflegen. "Andere können das nicht", sagt Rodrigo Gomes. "Wahrscheinlich die meisten. Und die leiden sehr."

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