Impfen

Die Politik sitzt das Masernproblem aus

Reflexartig wird nach jedem Masernausbruch nach einer Impfpflicht gerufen. Andere Maßnahmen scheitern seit Jahren am Kompetenz-Gerangel in der Gesundheitspolitik.

Wolfgang GeisselVon Wolfgang Geissel Veröffentlicht:
Umstritten: Impfungen.

Umstritten: Impfungen.

© Klaus Eppele / fotolia.com

BERLIN. Aktuell findet in Berlin der größte Masernausbruch seit Beginn der Meldepflicht im Jahr 2001 statt. Besonders der Todesfall eines Kleinkinds hat jetzt die Debatte um eine Impfpflicht in Deutschland wieder angeheizt.

Die Reflexe sind ähnlich wie bei dem Ausbruch vor zwei Jahren: Auf der einen Seite stehen die Grünen, diesmal nicht mit Biggi Bender, sondern mit Katja Dörner als deren Fraktionsvize im Bundestag.

"Ein Zwang zur Impfung geht zu weit", sagte sie der "Welt": Impfskeptiker bringe man nicht durch Zwang zum Umdenken, sondern durch umfassende, unabhängige Beratung.

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Auf der anderen Seite steht der Berufsverband der Kinder und Jugendärzte, der sich schon seit Jahren dafür starkmacht, dass jedes Kind vor der Aufnahme in eine öffentliche bezahlte Einrichtung wie Kindergarten oder Schule einen Nachweis für die Standardimpfungen erbringen muss.

In Richtung Pflicht tendiert momentan auch die große Koalition. Wenn die Impfbereitschaft nicht steige, "muss eine Impfpflicht für Kleinkinder der nächste Schritt sein", sagte zum Beispiel der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach der "Welt am Sonntag".

Auch Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) will zwar zunächst mit verstärkter Aufklärung gegen die Masern vorgehen. Aber wenn das nicht ausreiche, sei eine Impfpflicht kein Tabu mehr, sagte er der Nachrichtenagentur "dpa".

Ähnlich hatte schon Daniel Bahr bei dem Ausbruch vor zwei Jahren reagiert und die Maßnahmen haben seither nichts gebracht. Worauf wartet man also noch mit der Pflicht?

Es wird zu spät und nicht komplett geimpft

Experten sind sich bewusst, dass eine Impfpflicht nur ein (sinnvoller) Baustein von mehreren auf dem Weg zu besseren Masern-Impfraten in Deutschland sein kann. Insgesamt gibt es nämlich gar nicht so viele Impfverweigerer bei uns.

In Schuleingangsuntersuchungen 2011 waren bundesweit 97 Prozent der ABC-Schützen mindestens einmal gegen Masern geimpft (Epi Bull 2013; 16: 129).

Das ist doch eigentlich eine traumhafte Rate von Eltern, die offenbar die Masern-Impfungen für ihre Kinder wünschen.

Warum aber war der Schutz bei vielen Sechsjährigen nicht mit zwei Impfdosen vollständig? Eigentlich sollten auch schon 95 Prozent der Zweijährigen komplett geimpft sein, aber da sind es nur 71 Prozent.

Rechtzeitig aufklären und impfen wäre hier also wirksamer als eine Impfpflicht.

Die Pflicht könnte allerdings in den Regionen der Republik greifen, in denen es besonders viele Impfverweigerer gibt.

Das sind eher die gut situierten Regionen mit vielen Akademikern, in Bayern etwa die Landkreise Rosenheim, Bad Tölz-Wolfratshausen und Garmisch-Partenkirchen.

Hier haben nur bis zu 66 Prozent der Kleinkinder die erste Masernimpfung und nicht einmal 40 Prozent die zweite Dosis erhalten, wie eine Studie des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (ZI) ergeben hat.

Ob dort mit der im Präventionsgesetz geplanten Pflichtberatung, die Eltern vor der Aufnahme ihres Kindes in eine Kita oder Schule absolvieren sollen, die Impfraten gesteigert werden können, ist mehr als fraglich.

Überhaupt nichts bringen würde eine Impfpflicht bei den großen Impflücken junger Erwachsener. In Berlin ist immerhin jeder zweite Masernkranke über 18 Jahre.

Nach einer Analyse der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1) ist jeder fünfte 18- bis 29-Jährige und jeder zweite 30- bis 39-Jährige nicht gegen Masern geimpft.

Hier wären bundes- oder landesweiten Impfaktionen nötig. Auf solche Aktionen hat man sich aber in Deutschland auch nach drei nationalen Impfkonferenzen und einem nationalen Impfplan nicht einigen können.

Kleinliche bürokratische Hindernisse

Wie kleinliche bürokratische Hindernisse die Impfung von Erwachsenen erschweren, zeigt das Beispiel Berlin.

Dort hat sich am Montag der Mediziner Jakob Maske darüber beschwert, dass Kinder- und Jugendärzte keine Erwachsene mehr gegen Masern mitimpfen dürfen, wenn diese mit ihren Kindern in die Praxis kommen.

Das werde von der KV als fachfremde Leistung angesehen, sagte er der Nachrichtenagentur "dpa". Hier werde mit Wissen des Gesundheitssenats eine gute Chance verpasst, so Maske.

Das Masernproblem wird in Deutschland seit vielen Jahren von der Gesundheitspolitik ausgesessen. Jetzt die Schuld für schlechte Impfraten den Eltern zuzuschieben und mit einer Impfpflicht zu drohen, ist nicht sachdienlich.

Es müssen endlich Taten folgen, um die mit der WHO vereinbarte Masern-Elimination anzugehen. Die Nationale Verifizierungskommission Masern/ Röteln (NAVKO), die Fortschritte hierbei im Auftrag des Gesundheitsministeriums untersucht, hatte kürzlich geurteilt:

 "Aufgrund der vorliegenden Daten ließ sich nicht feststellen, dass das bestehende nationale gesundheitspolitische Bekenntnis zur Elimination der Masern und Röteln allgemein zu konzertierten Maßnahmen geführt hätte, die nachweislich auf Bundesebene zu einer Verbesserung der epidemiologischen Lage führen."

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