Masern

Impfmüdigkeit mit tödlichen Folgen?

Nach den aktuellen Masernausbrüchen befürchten Experten, dass es in einigen Jahren zu Toten durch Spätfolgen kommt. Schuld sind nicht nur Impfverweigerer, sondern auch Ärzte, Schwestern und Kliniken.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Medizinisches Personal tut sich oft schwer mit eigenem Impfschutz.

Medizinisches Personal tut sich oft schwer mit eigenem Impfschutz.

© absolutimages / Fotolia.com

Neu-Isenburg. Vor zwei Jahren sorgte eine tragische Geschichte für ein gewisses Aufsehen: In Bad Salzuflen starben gleich zwei Kinder an der subakuten sklerosierenden Panenzephalitis (SSPE).

Beide hatten sich Jahre zuvor in einer Kinderarztpraxis bei einem Elfjährigen mit Masern angesteckt. Dessen Eltern hatten offenbar eine Impfung abgelehnt. Die beiden Kinder, die den Viren zum Opfer fielen, waren damals selbst noch zu jung für die Impfung.

Das Beispiel führt drei wesentliche Probleme beim Masernschutz vor Augen. Erstens: Impfverweigerer gefährden nicht nur das Leben des eigenen Nachwuchses, sie bringen auch Unbeteiligte in tödliche Gefahr.

Zweitens: Viele Maserninfektionen ereignen sich in Kliniken und Praxen. Nach Studiendaten werden ein Siebtel bis die Hälfte der Maserninfektionen nosokomial übertragen (DMW 2013; 138: 2421).

Drittens: Eine SSPE ist wohl doch nicht so selten. Aktuelle Masernausbrüche wie derzeit in Berlin könnten in einigen Jahren weitere Opfer fordern.

Langsamer, qualvoller Tod

Die SSPE ist "kein schöner Anblick", so der Neurologe Professor Erich Schmutzhard von der Uniklinik in Innsbruck. Masernviren erobern dabei sieben bis zehn Jahre nach der Erkrankung langsam das Gehirn und zerstören es.

Immer mehr neurologische Funktionen fallen aus, es kommt zu schweren Muskelkrämpfen, Lähmungen und epileptischen Anfällen, zu psychischen Störungen und Demenz, schließlich zu Dezerebration und Tod, der das Leiden nach ein bis drei Jahren beendet.

Es gibt keine wirksame Therapie, die Überlebenschancen gehen gegen Null.

Doch eigentlich dürfte es diese grausame Krankheit längst nicht mehr geben: So hat man früher eine Häufung von etwa fünf SSPE-Fällen auf eine Million Masernerkrankungen angenommen.

So viele Masernkranke gibt es in Europa aber längst nicht mehr, dennoch sterben immer wieder Kinder und junge Erwachsene an dieser Enzephalitis.

Besonders auffällig sind SSPE-Wellen nach Masernausbrüchen. 1996 erkrankten in Deutschland knapp 45.000 Personen an Masern, sagte Schmutzhard auf dem europäischen Neurologenkongress in Berlin.

Elf SSPE-Fälle registriert

Neun Jahre nach dem Ausbruch wurden in Deutschland plötzlich elf SSPE-Fälle registriert, im Schnitt sind es sonst nur zwei bis vier pro Jahr. Solche Daten deuten eher auf ein Erkrankungsrisiko von etwa 1:2000.

Dieses, so der Neurologe, hänge jedoch stark vom Alter während der Erkrankung ab. Bei Babys unter sechs Monaten sei von einem Risiko von 1:500 auszugehen, manche Experten sehen die SSPE-Gefahr sogar eher in der Nähe von 1:100.

Bezogen auf den aktuellen Berliner Ausbruch heißt das: Ein oder mehrere Berliner Kinder werden vermutlich in einigen Jahren an SSPE erkranken und sterben, weil bestimmte Eltern auf die Masernimpfung des Nachwuchses verzichtet haben.

Das Problem tritt allerdings nicht nur in Deutschland auf, die Masern sind europaweit im Kommen: Lag die Zahl der Infektionen in Europa nach WHO-Angaben Mitte der 2000er-Jahre bei weniger als 8000 pro Jahr, so pendelt sie seit 2010 zwischen jährlich 30.000 und 35.000.

Größere Ausbrüche gab es etwa in Bulgarien 2010 mit über 21.000 Erkrankten, in Frankreich 2011 mit knapp 15.000 Betroffenen oder zuletzt in Berlin mit über 1300 gemeldeten Masernfällen.

In den ersten Monaten dieses Jahres seien nach noch unveröffentlichten Daten europaweit bereits über 20.000 Menschen an Masern erkrankt, so Schmutzhard.

Gut möglich also, dass in diesem Jahr der höchste Stand an Masernfällen seit Einführung von flächendeckenden Impfungen in Europa erreicht wird.

Die Ursache für das Masern-Comeback sei aber nicht nur "semireligiösen Fanatikern" zuzuschreiben, so Schmutzhard mit Blick auf die vielen ideologisch geprägten Impfverweigerer, sondern auch ungeimpften Ärzten und Krankenschwestern, die mit Kleinkindern und Neugeborenen zu tun haben.

Masernkranke Schwester auf Neugeborenenstation

Er erinnerte an einen Masernausbruch in Österreich mit 120 Kindern, die sich weitgehend in Gesundheitseinrichtungen angesteckt hatten. In einem Fall sei eine masernkranke Krankenschwester mit 180 Neugeborenen in Kontakt gekommen.

"So etwas nenne ich ein Verbrechen", sagte der Neurologe. Wenn Kinder nicht ausreichend Antikörper von ihren Müttern übertragen bekommen, hätten sie in solch einer Situation kaum eine Chance, einer Infektion zu entgehen. Und gerade bei masernkranken Neugeborenen sei mit einem hohen SSPE-Risiko zu rechnen.

Spätestens hier stellt sich die Frage, ob es nicht sinnvoller ist, wenigstens Gesundheitspersonal ohne ausreichenden Impfschutz von Risikopatienten fernzuhalten, statt über eine allgemeine Impfpflicht zu diskutieren, die es vermutlich nie geben wird.

Ersteres wäre durch gesetzliche Regelungen vergleichsweise einfach möglich. Zwar schreiben inzwischen viele Kliniken den Nachweis der wichtigsten Impfungen in den Arbeitsvertrag ihrer Mitarbeiter, sie müssen das aber nicht tun.

Noch seltener wird man die indirekte Impfpflicht im ambulanten Bereich finden. Schwangere sind daher gut beraten, wenn sie sich vor der Entbindung in der Klinik nach dem Impfstatus der Mitarbeiter erkundigen.

Noch mehr Vorsicht ist geboten, wenn eine Hebamme die Geburt begleitet - nach einer Erhebung des RKI lehnt jede vierte die Masernimpfung kategorisch ab (Epi Bull 2008; 21: 163).

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