Ein zweites Leben nach der Tuberkulose

Von Thomas Müller Veröffentlicht:

Tuberkulose tötet langsam aber stetig. Wenn Mycobacterium tuberculosis einmal sein zerstörerisches Werk begonnen hat, dann läßt es sich kaum noch stoppen, häufig nicht einmal mehr von einem Mix aus vier bis sechs Antibiotika. Takhir Tagier weiß das, denn er ist dem Tod nur knapp entronnen.

Jetzt steht er mit freiem Oberkörper vor Professor Aleksei Vladimirowitsch El`Kin im St. Petersburger Institut für Phthisio-Pulmologie und läßt sich untersuchen. Eine Narbe unter seiner rechten Brust ist das einzige äußere Zeichen seiner Krankheit, für die Innenansicht sorgt ein frisches Röntgenbild. El`Kin zeigt es seinem Patienten und deutet mit seinem Zeigefinger auf den linken Lungenflügel. Alles in Ordnung, sagt er.

Keine weißen Flecken, kein Zeichen eines Rezidivs. Um den rechten Flügel braucht er sich nicht zu kümmern. Den mußte Tagier vor einigen Jahren opfern - auf dem Bild ist stattdessen nur eine gleichförmig schwarze Fläche zu sehen. Das war der Preis für sein neues Leben.

Wer Takhir Tagier in dem 150 Jahre alten Backsteingebäude der St. Petersburger Spezialklinik für Tuberkulose besuchen will, erhält ein paar blaue Plastiküberzieher für die Schuhe, einen durchsichtigen Einweg-Plastikumhang und einen Mundschutz. Nicht etwa, weil der ehemalige Ingenieur aus Baku in Aserbaidschan besonders infektiös ist - er scheidet längst keine Mykobakterien mehr aus, sondern weil es in der Tuberkulose-Spezialklinik noch viele andere TB-Kranke gibt, oft die Schwerkranken, die andere Ärzte längst aufgegeben haben. So wie der Arzt, der Tagier vor sieben Jahren gesagt hat, daß es zu spät ist, daß er auf die Antibiotika nicht anspricht und daß man gegen seinen Pneumothorax nichts mehr tun kann.

Die Erreger fraßen sich nach jeder Op weiter durch die Lunge

2500 bis 3000 Patienten werden in dem TB-Zentrum in St. Petersburg jährlich behandelt. Bei etwa der Hälfte davon sind die Erreger multiresistent - bei ihnen wirken mindestens zwei der vier bis sechs Arzneien, die über ein halbes Jahr lang eingenommen werden müssen, nicht mehr. Häufig bleibt dann nur eine Op.

Die Ärzte versuchen zunächst die Bakterien-haltigen Kavernen aus dem Lungenflügel zu schneiden oder sie per Laser zu veröden. Genügt das nicht, muß der gesamte Lungenflügel entfernt werden. Zweimal haben die Ärzte Tagiers rechte Lunge operiert, doch die Mykobakterien haben sich nach jeder Operation weiter durch das Gewebe gefressen, bis die Lunge nicht mehr funktionierte. Bei der dritten Operation haben sie den Lungenflügel komplett entfernt.

Eine Pneumektomie war die letzte Chance des Ingenieurs

Doch Tagier hatte Glück: Es war nur ein Lungenflügel befallen, und es gab keinen Komplikationen bei der Operation. Häufig, berichtet der Pneumologe El`Kin, sterben die Patienten nicht an der TB, sondern bei dem Versuch, das Leben durch eine Op zu retten. Die Patienten sind vor der Op meist sehr geschwächt, das Risiko, eine Infektion zu bekommen, ist daher groß. Doch werden sie nach einer erfolglosen Arznei-Therapie nicht operiert, ist die Lebenserwartung sehr gering. Auch das weiß Tagier. Sein Bruder wollte sich nicht operieren lassen. Er starb vor sechs Jahren.

Tagier ist daher froh, daß er in dem Spezialzentrum in St. Petersburg behandelt worden ist. In ganz Rußland, sagt El`Kin, gibt es nur fünf solcher auf TB spezialisierter Zentren.

Sie kämpfen gegen eine Krankheit, die sich seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion rasant in Rußland und den ehemaligen Sowjetstaaten ausgebreitet hat, weil nicht nur ein Staat, sondern auch ein Gesundheitssystem zusammengebrochen ist, das seine Bürger regelmäßig auf TB untersucht hat.

Sie kämpfen auch gegen eine Krankheit, so der Chef des Instituts, Professor Juri Levaschew, die eben nur zum kleinen Teil ein medizinisches und zum großen Teil ein ökonomisches Problem ist: Mit zunehmender Armut stieg in den 90er Jahren auch die TB-Rate. Hinzu kam, daß viele Menschen auf der Suche nach einem Job und einem besseren Leben durch das ganze Land reisten. Wird ein TB-Kranker jedoch nicht rechtzeitig isoliert und behandelt, steckt er pro Jahr schätzungsweise zehn bis 15 weitere Menschen an.

Inzwischen, so Levaschew, ist die TB-Inzidenz etwas gesunken. Nach neusten Schätzungen lag sie 2005 bei 83 Neuerkrankungen pro 100 000 Einwohner. Die Inzidenz ist damit etwa zehnmal höher als in Deutschland.

Vielleicht lag der Rückgang der TB-Inzidenz in Russland an der verbesserten wirtschaftlichen Situation, vielleicht trugen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Erkrankung erste Früchte: Die Kliniken, so Levaschew, erhielten jedenfalls mehr Geld, die Ärzte wurden wieder besser mit Blick auf TB ausgebildet, die Patienten etwas konsequenter behandelt. "Trotzdem ist es noch zu früh, von einer Stabilisierung zu sprechen", sagt der Institutsleiter.

Junge Ärzte haben Angst, in TB-Kliniken zu arbeiten

Ihn stört auch, daß sich kaum noch junge Ärzte für die Arbeit mit TB-Kranken interessieren. Offenbar fürchten sie das hohe Ansteckungsrisiko. In der Sowjetunion seien zudem Hausärzte für das TB-Screening mit zuständig gewesen. Heute kümmerten sie sich kaum noch darum. Daher könne es lange dauern, bis eine TB erkannt werde, sagt Levaschew.

Ein weiteres Problem sind die multiresistenten Stämme. Im Jahr 2003 hatten über acht Prozent der TB-Kranken in Rußland einen Stamm, gegen den die Antibiotika Isoniazid und Rifampicin wirkungslos sind.

Auch Takhir Tagier hatte einen solchen Stamm. Er hatte ihn schon lange vor dem ersten Husten, lange bevor er sich zu schlapp fühlte, um zu arbeiten, lange bevor sein Gewicht dramatisch abnahm. Erst als sein Bruder krank wurde und die Ärzte die ganze Familie untersuchten, sahen sie auf seinem Röntgenbild diese typischen weißen Flecken - kleine Kavernen in seiner rechten Lunge - und setzten ihn auf Antibiotika.

Doch es half nichts. Im Gegenteil, während der Therapie brach die Krankheit bei ihm aus. Das Fieber wurde ein ständiger Begleiter, sein Körper und seine Kräfte schwanden dahin. Nach neun Monaten gaben ihn die Ärzte in Baku auf - zu dieser Zeit wog er nur noch 60 Kilo. St. Petersburg war seine letzte Chance.

Mykobakterien greifen auch Gelenke und Wirbelsäule an

Wer keinen multiresistenten Stamm hat, sagt Professor Aleksei El`Kin, bekommt zwei Monate lang die Standardtherapie mit einem Antibiotika-Cocktail in der Klinik, und wird dann in einem Sanatorium weitere vier bis acht Monate behandelt.

Die Patienten mit multiresistenten Erregern bleiben mindestens ein halbes Jahr in der Spezialklinik, oft sind sie es, die operiert werden müssen. 800 Mal werden die Chirurgen der Klinik jedes Jahr wegen TB aktiv, und nicht immer sind es die Lungen. Der Pneumologe zeigt Bilder von Patienten mit Knochen- und Gelenk-TB, deformierte Extremitäten mit Fehlstellungen, die mühsam korrigiert werden müssen, oder Kinder mit Implantaten zur Stabilisierung der angefressenen Wirbelsäule.

Und nicht immer sind die Patienten nach der Operation geheilt, selbst dann nicht, wenn wie bei Takhir Tagier ein ganzer Lungenflügel entfernt wird. Ein halbes Jahr nach der Operation fanden die Ärzte auch in der seiner linken Lunge eine Kaverne. Dreimal haben sie ihn operiert und das Gewebe mit einem Laser verödet. Seit fünf Jahren hat er jetzt Ruhe.

Tagier wird nun 40 Jahre alt. Er war 32 als er TB bekam. Einen Job darf er als ehemaliger TB-Kranker nie wieder annehmen. Stattdessen bekommt er vom Staat eine kleine Invalidenrente. Trotz allem wirkt er heute sehr entspannt und gelöst. "Ich lebe noch, die Ärzte hier haben mir mein Leben gerettet, und ich fühle mich wieder gesund und kräftig", sagt er. Vor allem freut er sich, daß seine Lunge sauber ist, keine Kavernen, keine Erreger nachweisbar. Doch das heißt noch lange nicht, daß er geheilt ist. Der Erreger kann sich noch immer irgendwo verstecken. Auch das weiß Takhir Tagier.

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