Fukushima

Kontroverse um Screening-Effekt bei Krebs

Hat das Atom-Unglück im Meiler Fukushima Daiichi am 11. März 2011 zu einer Zunahme von Schilddrüsenkrebs bei Kindern geführt? Ja, finden atomkritische deutsche Ärzte. Japanische Forscher sehen hingegen einen "Screening-Effekt".

Von Sonja Blaschke Veröffentlicht:
Kinder in Fukushima werden reihenuntersucht.

Kinder in Fukushima werden reihenuntersucht.

© Ian Thomas Ash/ documentingian.com

FUKUSHIMA. Viereinhalb Jahre nach der Havarie im Atomkraft Fukushima Daiichi im März 2011, bei der große Mengen an radioaktiven Partikeln freigesetzt wurden, warnt die Organisation Internationale Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) vor einem Anstieg an Fällen von Schilddrüsenkrebs bei Kindern aus Fukushima.

Während manche Experten den Anstieg auf die flächendeckenden Untersuchungen zurückführen, durch die mehr Fälle aufgedeckt wurden, also den Screening Effekt, sprechen andere von einem kausalen Zusammenhang zwischen der freigesetzten Radioaktivität und den Erkrankungen.

Über 300.000 Kinder unter 18 Jahren wurden in Fukushima seit der Katastrophe an der Schilddrüse untersucht. Das Organ ist besonders anfällig für pathologische Veränderungen der Zellen, wenn sie radioaktiver Strahlung ausgesetzt wurden.

Die Erkrankungen treten, wie man nach der Katastrophe von Tschernobyl 1986 beobachtete, etwa vier Jahre nach der Strahlenexposition vermehrt auf. In Fukushima sei bisher laut IPPNW bei rund 100 Kindern Schilddrüsenkrebs festgestellt worden, bei einigen Dutzend weiteren Kindern bestehe der Verdacht.

Von April 2014 bis März 2016 läuft eine zweite Untersuchungsrunde zwei Jahre nach der Erstuntersuchung; sie bezieht nun auch Kinder ein, die nach dem 11. März 2011 auf die Welt kamen. Von knapp 380.000 Kindern wurden bisher rund 170.000 untersucht.

Die zweite Runde ergab, so IPPNW, dass die Neuerkrankungsrate bei zwei Fällen je 100.000 Kindern liege. Vor der Nuklearkatastrophe habe es nur 0,3 Fälle pro Jahr gegeben.

Kontrollgruppen in nicht verstrahlten Präfekturen

"Dieser Anstieg lässt sich nicht mehr mit einem sogenannten Screening-Effekt begründen, sondern deutet auf einen kausalen Zusammenhang zur verantwortungslosen Exposition der Kinder mit radioaktivem Jod hin", sagte der Kinderarzt und stellvertretende Vorsitzende der deutschen IPPNW-Sektion Dr. Alex Rosen.

Andere Experten, wie Dr. Masahiro Nakashima vom Atomic Bomb Disease Institute der Universität Nagasaki, sagen, der Anstieg hänge sehr wohl mit dem Screening Effekt zusammen. Vor der Katastrophe sei die Schilddrüse der Kinder nicht untersucht worden.

Außerdem habe sich die Qualität der medizinischen Untersuchungen "dramatisch verbessert", so dass man Veränderungen des Gewebes besser entdecken könne, sogar Knoten unter zwei Millimetern Größe.

Im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung" wies Nakashima darauf hin, dass eine Studie an Kontrollgruppen von Kindern, die keine Symptome zeigten, in den nicht verstrahlten Präfekturen Nagasaki und Yamanashi laufe. Die Studie, deren Ergebnisse zum Teil veröffentlicht seien, habe die gleichen Resultate wie in Fukushima ergeben.

 "Aber auf Basis der Erfahrungen mit Tschernobyl und den Atombomben müssen wir über einen langen Zeitraum die Gesundheit der Kinder in Fukushima beobachten", betont auch Nakashima.

Die Frage, wie viel Strahlung schädlich ist, ist sehr umstritten. "Niemand konnte bisher zeigen, wie sich niedrige Strahlung auf unsere Zellen auswirkt", so Nakashima.

Der frühere Uniprofessor David Ho, Experte für Atomkraft aus Taiwan, sagte der "Ärzte Zeitung", in der Branche sei die Faustregel: "Je weniger der Körper radioaktiver Strahlung ausgesetzt ist, desto besser."

Zweifel an Aussagen von Behörden

Der Mangel an eindeutigen Informationen verunsichert viele Betroffenen. Sie schwanken zwischen dem Wunsch, in ihre Heimat zurückzukehren oder sich woanders ein neues Leben aufzubauen. Vor allem für Familien mit Kindern ist die Entscheidung schwierig. Zwar sagen die Behörden, dass ihre Häuser und Schulen nun ausreichend dekontaminiert seien. Doch viele haben Zweifel.

Der Filmemacher Ian Thomas Ash begleitete in seiner preisgekrönten Dokumentation "A2 B C" (Video siehe unten) mehrere Familien, die wieder in ihre Heimat in Fukushima zurückkehrten. Eine Mutter findet direkt neben einem Schulgelände einen Hotspot, eine Stelle mit sehr hoher Strahlung.

Sie und der Filmemacher konfrontieren den Vertreter der Schule damit. Ohne Erfolg. Andere Mütter verbieten ihren Kindern, an windigen Tagen am Schulsport draußen teilzunehmen. Ihre Sorge ist nicht unbegründet: Bei einigen der gezeigten Kinder wurden Knötchen entdeckt. Je nach Art der Veränderung wird die Kategorie A2, B oder C vergeben - daher der Titel des Films.

Vor wenigen Tagen machte die Gemeinde Naraha rund um die Welt Schlagzeilen. Sie ist die erste von sieben betroffenen Gemeinden, für die der Evakuierungsbefehl komplett und nicht nur teilweise aufgehoben wurde. Alle evakuierten Bewohner können nun wieder zurückkehren.

Aber weniger als die Hälfte der registrierten 7400 Bewohner nehmen die Möglichkeit in Anspruch, und nur ein Bruchteil davon sofort. Unter ihnen sind viele Senioren. Für ihre Versorgung will die Stadt im Oktober eine Klinik einrichten, eine weitere, die von der Präfektur geführt wird, frühestens im Februar.

Die Lage am Atomkraftwerk Fukushima ist indes weiter kritisch. Vor allem die Massen an kontaminiertem Wasser sind noch immer ein Problem, die Lagermöglichkeiten begrenzt. Die Lage wird verschärft, wenn Taifune über die Region ziehen.

Zuletzt riss der Taifun Etau, der für Überschwemmungen und Erdrutschen in Nordjapan sorgte und mehrere Tote forderte, Säcke mit verstrahltem Material aus dem temporären Lager unweit des zerstörten Kraftwerks fort.

Video

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Veröffentlicht: 17.09.2015

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