Mit Leberzellen gegen Stoffwechseldefekte

Bei angeborenen Störungen des Harnstoffwechsels wird Ammoniak im Körper akkumuliert. Folge: eine Selbstvergiftung mit irreversiblen Hirnschäden. Therapie: die Lebertransplantation. Die Zeit bis dahin soll mit Hilfe übertragener Leberzellen ohne Dekompensationen überbrückt werden.

Von Michael Hubert Veröffentlicht:

Infusion der Leberzellen über die Pfortader.

HEIDELBERG. "Die Inzidenz angeborener schwerer Defekte im Harnstoffwechsel liegt bei etwa 1 : 8000", erklärt Dr. Dr. Wolfgang Rüdinger vom Unternehmen Cytonet im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung". Jedes Jahr kommen in Deutschland 70 bis 80 Neugeborene mit einem solchen Defekt zur Welt. Der Stoffwechsel der Kinder entgleist in den ersten Lebenstagen, weil das Ammoniak nur vermindert oder gar nicht abgebaut wird. Ammoniak-Konzentrationen von bis zu 2000 mg/dl im Serum können die Folge sein. "Bereits ein Serumwert von 300 bis 400 mg/dl kann zum Koma führen", so Rüdinger. Der Körper vergiftet und zerstört sich quasi selbst. Die Folge: eine lebenslange Funktionsstörung des Gehirns mit zunehmender geistiger Behinderung und frühem Tod.

Spezialdiät plus Ammoniak einfangende Arzneien

"Bisher erhalten die Kinder eine spezielle Diät, sowie Ammoniak einfangende Medikamente. Trotzdem lassen sich katastrophale Krisen nicht immer vermeiden oder mildern", so Rüdinger. Dann heiße es warten, bis die Kinder acht bis zehn Kilogramm wiegen, also etwa vier bis fünf Monate alt sind. Erst dann könne die Lebertransplantation erfolgen. "Mit unserem Leberzellverfahren wollen wir die Zeit bis zur Transplantation ohne Stoffwechselentgleisungen und somit ohne irreversible Hirnschäden überbrücken", so Rüdinger.

Perfusion der Spenderleber mit Enzymlösung, um die Bindegewebsmatrix aufzulösen.

Bei dem von Cytonet entwickelten Verfahren werden aus Spenderlebern die Leberzellen in einem komplexen Verfahren schonend isoliert und aufgereinigt. Bei den verwendeten Organen handelt es sich in erster Linie um kleine, neonatale Lebern, die nicht zur Transplantation geeignet sind. "In den USA sterben jedes Jahr fast 20000 Kinder einige Tage nach der Geburt. Aus solchen Lebern können wir die besten Zellen für unsere Therapie isolieren", so Rüdinger. Nach Explantation des Organs wird es mit einer Enzymlösung perfundiert: Kollagenasen lösen die Bindegewebsmatrix auf. Die Zellen werden dann aufgereinigt und nach Ausschluss biologischer Risiken wie bakteriellen oder viralen Kontaminationen freigegeben. "Dabei wird auch die Funktionalität der Hepatozyten sichergestellt." "Das Ganze ist konform mit den Bestimmungen des Arzneimittelgesetzes." Die so gewonnenen Zellen werden kryokonserviert und sind tiefgefroren für Jahre haltbar.

Behältnis mit kryokonservierten Zellen nach dem Auftauen.

Vor der Infusion werden die Zellen aufgetaut, um dann in die Pfortader infundiert zu werden. "Das geschieht per Katheter über die Nabelvene, die bis zu zehn Tagen nach der Geburt zugänglich ist", sagt Rüdinger.Bei älteren Kindern wird der Katheter durch einen kleinen chirurgischen Eingriff in eine periphere Mesenterialvene eingebracht. Der gesamte Zell-Applikationsprozess dauert sechs Tage. Die Hepatozyten werden jeweils 20 bis 30 Minuten infundiert, dann wird ein Tag gewartet und erneut infundiert. "So erzielen wir eine maximale Effektivität der Übertragung." Einige der infundierten Leberzellen überwinden die Pfortaderbarriere. Das werde durch den leichten Entzündungsprozess gefördert, der durch die Infusion entsteht. Die Zellen siedeln sich schließlich in der Leber an.

"Die infundierten Zellen haben wohl einen Wachstumsvorteil gegenüber den eigenen Leberzellen", so Rüdinger. Das könne am hohen Selbstregenerationspotenzial der Leber liegen. Zum einen teilen sich anscheinend die infundierten Hepatozyten, zum anderen fördern die im Verfahren mitisolierten kleinen Leberzellen den Prozess. "Diese Zellen haben die Funktion von Vorläuferzellen. Wir übertragen sowohl diese kleinen Leberzellen als auch die reifen, sich ebenfalls teilenden Hepatozyten. Unsere Zellsuspension kann im Prinzip als ein Stammzellprodukt angesehen werden."

Zu dem Verfahren der Leberzellübertragung sind weltweit bisher etwa 100 Fälle publiziert. "Allerdings hat es noch nie eine geregelte Studie dazu gegeben", so Rüdinger. Das ist jetzt anders. Bereits vergangenes Jahr hat das Paul-Ehrlich-Institut die SELICA-II-Studie* genehmigt, die an den Unikliniken Heidelberg, Düsseldorf und Hannover laufe. Bis Ende 2009 sollen vier Kinder mit einem angeborenen Harnstoffwechseldefekt therapiert werden. Drei wurden schon aufgenommen und behandelt, alle sind nur ein paar Wochen alt. "Wir wissen nicht, wie lange die Leberzellen arbeiten. So lange das nicht klar ist, raten die Studienärzte den Eltern, die Kinder in eine Lebertransplantation zubringen, sobald sie für eine sichere Übertragung groß genug sind", sagt Rüdinger. "Der erhoffte Benefit für die Kinder ist, dass sie die Zeit bis zur Op krisenfrei und ohne Hirnzerstörung überbrücken." Bisher erhielten viele Kinder wegen der Hirnschäden keine Transplantation.

Ersetzt Leberzellübertragung die Organtransplantation?

"Wenn wir durch die Studie lernen, dass die Zellen länger und länger arbeiten, dann können wir diskutieren, ob die Leberzellübertragung eine Alternative zur Transplantation sein könnte", blickt Rüdinger in die Zukunft. In Entstehung ist ein Monitoringsystem, das auf der Aufnahme von 13C-Bikarbonat beruht. Das Bikarbonat werde ausschließlich im Harnstoffzyklus zu 13C-Harnstoff umgewandelt, das durch Massenspektrometrie im Blut nachgewiesen werden kann. "Der Nachweis korreliert dann mit der gesamten Enzymaktivität des Harnstoffzyklus." Man sehe, ob die Leistung des Harnstoffzyklus ausreicht. Das könnte eine wesentliche Voraussetzung für die Entscheidung sein, eine Transplantation durchzuführen oder noch zu warten.

Von anderen mit diesem Verfahren vor der Studie behandelten Kindern ist bekannt, dass die Enzymaktivität der infundierten Leberzellen lang anhaltend sein kann. In einem Fall sogar bislang fast drei Jahre. In zwei Fällen konnten im Rahmen einer Lebertransplantation die explantierten Lebern der Kinder untersucht werden. Es konnte eine überraschend hohe Aktivität des ursprünglich genetisch fehlenden Enzyms in diesen Lebern nachgewiesen werden. Das erklärt die Stoffwechselstabilität der Kinder bis zur Organtransplantation.

*SELICA = Safety and Efficacy of Liver Cell Application

Harnstoffwechseldefekte

Einige Gendefekte sind X-chromosomal vererbt. Häufig sind diese besonders schwerwiegend. Dies ist auch so, wenn der Harnstoffwechsel betroffen ist, über den das bei der Eiweißverbrennung entstehende Ammoniak abgebaut wird. Sechs Enzyme sind beteiligt. Angeborene Gendefekte betreffen am häufigsten drei dieser Enzyme: die Ornithintranscarbamylase (OTC), die Carbamylphosphatsynthetase (CPS), der dritte Defekt führt zu einer Citrullinämie, also Anreicherung von Citrullinsäure. Die Gesamtinzidenz aller Enzymdefekte des Harnstoffzyklus liegt in Deutschland bei 1:8000. Solche Defekte werden beim erweiterten Neugeborenen-Screening bislang nicht bestimmt, da bis jetzt keine spezifische Therapie bestand. Weiterhin können die recht unspezifischen klinischen Symptome mit einer Neugeborenensepsis verwechselt werden.

Zelltherapien von Cytonet

Die Cytonet-Gruppe ist ein medizinisch-biotechnologisches Unternehmen mit derzeit 60 Mitarbeitern. Das Unternehmen entwickelt, produziert und vermarktet zelltherapeutische Produkte, die unter Nutzung speziell aufbereiteter menschlicher Zellen bei vielen Erkrankungen erstmals die Anwendung heilender Therapieverfahren ermöglichen. Seit Anfang 2007 konnten mit dem Cytonet-Leberzellpräparat in der Uniklinik Heidelberg, der Medizinischen Hochschule Hannover sowie in der Unikinderklinik in Padua vier Kinder mit lebensbedrohlichen Harnstoffzyklusdefekten erfolgreich behandelt werden. Gegründet wurde Cytonet durch die Ausgliederung des Bereiches Zelltherapie aus dem Roche Konzern im April 2000. Eine maßgebliche Beteiligung hält die Familie Dietmar Hopp.

www.cytonet.de

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