Verhaltensstörungen

Hilfe für Kinder außer Rand und Band

Mit 13 Jahren schon 200 Straftaten: Oft bringen schwere Verhaltensstörungen Kinder und Jugendliche auf die schiefe Bahn. Doch das kann verhindert werden, betonen Psychiater.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Früh erkannt, können schwere Verhaltensstörungen bei Kindern behandelt und somit möglicherweise auch eine kriminelle Karriere verhindert werden.

Früh erkannt, können schwere Verhaltensstörungen bei Kindern behandelt und somit möglicherweise auch eine kriminelle Karriere verhindert werden.

© Eleonore H/Fotolia.com

NEU-ISENBURG. Es sind Beispiele wie das von Christoph, die auch bei Experten für Ratlosigkeit sorgen: Mit 13 Jahren hatte er bereits über 200 Straftaten begangen, konnte aufgrund seines Alters aber nicht juristisch belangt werden.

Auf die Strafmündigkeit mit 14 Jahren folgten prompt mehrere Jugendstrafen und Gefängnisaufenthalte, unter anderem wegen einer Vergewaltigung. Ende 20 hatte er bereits neun Jahre im Gefängnis verbracht, mit 30 wurde er von einem anderen Gewalttäter ermordet.

Solche Karrieren werfen immer wieder Fragen nach den Ursachen auf und damit auch danach, ob sich ein krimineller Lebenslauf verhindern lässt. Der Psychiater Professor Helmut Remschmidt von der Universität Marburg ist jedenfalls davon überzeugt, dass ein Teil der Betroffenen einen anderen Weg einschlägt, wenn Verhaltensauffälligkeiten rechtzeitig erkannt und die Kinder und Jugendlichen intensiv behandelt werden.

Schnell auf Drogen

So hatten bei Christoph bereits in der Kindheit viele Symptome auf einen ungünstigen Verlauf verwiesen, sagte Remschmidt beim Psychiatrie Update in Wiesbaden. Mit zwei Jahren entwickelte das Kind eine ausgeprägte Hyperaktivität und Schlafstörungen, mit vier Jahren wurde es aufgrund seines aggressiven Verhaltens aus dem Kindergarten verwiesen.

In der Schulzeit präsentierte der Junge dann sämtliche Symptome eines ADHS. Auch hier kam es zu massiven Problemen wegen seiner Gewalttätigkeit, einmal wurde er von der Schule verwiesen.

Schon bald konsumierte er Drogen wie Haschisch, LSD, Kokain und das Schlafmittel Rohypnol. Auf einer erlebnispädagogischen Reise durch Südamerika wurde er ebenfalls straffällig. Psychiater attestierten ihm schließlich eine schwerwiegende Störung des Sozialverhaltens.

Neun von zehn haben auch ADHS

Eigentlich, so Remschmidt, ist diese Bezeichnung nicht ganz glücklich, der englische Begriff "conduct disorder" oder "Benimmstörung" trifft es besser, da es schließlich um eine bestimmte Form des Sozialverhaltens geht. Typisch sind dissoziales, aggressives und aufsässiges Verhalten, wobei Grundrechte anderer Personen und soziale Normen verletzt werden.

Auch Grausamkeit, Destruktivität, Tyrannisieren, schwere Wutausbrüche, häufiges Lügen und Schuleschwänzen zählen zu den Leitsymptomen.

Oft ist die Störung mit anderen psychischen Erkrankungen vergesellschaftet, vor allem mit ADHS: Etwa neun von zehn Betroffenen haben auch Schwierigkeiten mit der Aufmerksamkeit oder sind hyperaktiv, dabei geht das ADHS dem auffälligen Sozialverhalten in der Regel voraus, erläuterte der Psychiater.

Insgesamt ist eine Störung des Sozialverhaltens die häufigste Diagnose in kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtungen, bis zu 30 Prozent der Kinder dort sind betroffen. In Bevölkerungsstichproben lässt sich bei etwa jedem zehnten Kind ab zwölf Jahren eine solche Störung feststellen.

Ein Problem ist vor allem die hohe Delinquenz der Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit solchen Verhaltensauffälligkeiten - etwa 40 Prozent werden straffällig.

Allerdings wächst sich die kriminelle Neigung mit dem Alter aus, nur etwa 10 Prozent schlagen tatsächlich eine Verbrecherlaufbahn ein. Lassen diese sich zuvor irgendwie erkennen und vielleicht in eine andere Richtung lenken?

Viele Prädiktoren deuten auf Gewaltneigung

Zumindest, so der Psychiater, sind aus Studien rund ein Dutzend Prädiktoren bekannt, die auf eine Gewaltneigung deuten. Dazu zählen Straftaten vor dem zehnten Lebensjahr, eine offenkundige Grausamkeit gegenüber Tieren und Menschen, hartherziges und emotionsloses Verhalten, aber auch depressive Verstimmungen und eine geringe Motivation in der Schule.

Ungünstig sind ferner Stress in der Familie sowie ein niedriger sozioökonomischer Status. Nach Daten einer US-Longitudinalstudie wird bei vier solcher Faktoren knapp die Hälfte der Betroffenen durch Gewaltstraftaten auffällig, bei sieben sind es bereits drei Viertel, bei neun und mehr praktisch alle (J Consult Clin Psychol. 2005; 73: 1074).

Außer dem Risiko für Gewalttaten ist bei den Betroffenen die Gefahr groß, eine dissoziale Persönlichkeitsstörung zu entwickeln. Warnzeichen hierfür sind eine eingeschränkte Affektregulation, eine leichte Irritierbarkeit sowie eine gestörte Gewissensbildung, erläuterte Remschmidt.

Nach den Leitlinien der kinder- und jugendpsychiatrischen Fachverbände werden bei auffälligem Sozialverhalten Interventionen auf mehreren Ebenen empfohlen. So können die Eltern durch ein spezielles Training in die Lage versetzt werden, besser auf die Entwicklung des Kindes einzuwirken.

Ferner sollte das Kind von Jugendlichen getrennt werden, die einen schlechten Einfluss ausüben; mitunter kommt der ungünstige Einfluss auch aus der Familie, was eine außerfamiliäre Unterbringung nahelegt.

Multisystemische Therapie nach Henggler besonders wirksam

Zu den wirksamsten ambulanten Interventionen zählt Remschmidt die multisystemische Therapie nach Henggeler. Hierbei kümmert sich ein Team von Therapeuten intensiv mehrere Monate lang um Eltern und Kind, hauptsächlich mit kognitiven und verhaltenstherapeutischen Techniken.

Rund um die Uhr ist ein Therapeut aus dem Team ansprechbar. Ziel ist eine familienstärkende Behandlung in der gewohnten Umgebung. Nach Studiendaten lässt sich mit der ambulanten Intensivbehandlung die Rückfälligkeit für Straftaten in den folgenden 14 Jahren um rund 50 Prozent senken, die für Sexualstraftaten sogar um 83 Prozent.

Wenig hilfreich, so der Psychiater, sind hingegen tiefenpsychologisch fundierte und analytische Therapien oder Selbsthilfegruppen.

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