ADHS

Medikamente verhindern wohl viele Autounfälle

Jeder fünfte schwere Autounfall von ADHS-Patienten ließe sich offenbar vermeiden, wenn die Patienten regelmäßig ihre Medikamente nehmen würden – so eine schwedische Studie. Doch: Bei Amphetamin scheint es einen gegenteiligen Effekt zu geben.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
ADHS-Patienten, die ihre Medikamente regelmäßig nehmen, reduzieren ihr Unfallrisiko im Straßenverkehr

ADHS-Patienten, die ihre Medikamente regelmäßig nehmen, reduzieren ihr Unfallrisiko im Straßenverkehr

© Uli-B / Fotolia

STOCKHOLM. Es ist kaum erstaunlich, dass Menschen, die sehr impulsiv Auto fahren und sich dabei leicht ablenken lassen, eher in Unfälle verwickelt werden. Entsprechend deuten viele Studien auf ein erhöhtes Unfallrisiko von ADHS-Patienten. Ob und in welchem Ausmaß die ADHS-Medikation dieses Risiko senken kann, wird immer wieder diskutiert.

Im Fahrsimulator machen ADHS-Kranke unter Medikation jedenfalls weniger Fehler als ohne, auch deuten Videoanalysen von realen Autofahrten auf weniger Regelverstöße, wenn die Betroffenen unter ADHS-Medikamenten fahren.

Schließlich fand eine schwedische Registeranalyse, dass zumindest Männer unter ADHS-Mitteln deutlich seltener Unfälle verursachen als ohne Medikamente, für Frauen war der Zusammenhang aber weniger deutlich.

Unfallrate um fast 50 Prozent erhöht

Dies nahm ein Team um Dr. Zheng Chang vom Karolinska-Institut in Stockholm zum Anlass, nach ähnlichen Zusammenhängen in der US-Bevölkerung zu schauen (JAMA Psychiatry 2017; online 10. Mai).

Die Forscher erhielten Zugriff auf die Datenbank MarketScan mit Angaben von 100 Versicherern und knapp 150 Millionen US-Versicherten. Darunter befanden sich rund 2,3 Millionen Menschen im Alter von mindestens 18 Jahren, die entweder eine ADHS-Diagnose hatten oder ADHS-Medikamente bekamen.

Deren Schicksal wurde über knapp zwei Jahre hinweg analysiert, 52 Prozent der Betroffenen waren Frauen.

Die Forscher um Chang schauten zum einen, in welchen Monaten die Patienten ein ADHS-Mittel verschrieben bekamen, und zum anderen, in welchen Monaten die ADHS-Kranken notfallmäßig in eine Klinik aufgenommen wurden, nachdem sie als Fahrer eines motorisierten Fahrzeugs in einen Unfall verwickelt waren. Zumeist dürfte es sich hier um Autounfälle gehandelt haben.

ADHS-Patienten haben öfters schwere Verkehrsunfälle

Im Laufe von rund 50 Millionen Patientenmonaten mussten etwa 11.200 der Betroffenen (0,5 Prozent) aufgrund eines Verkehrsunfalls in eine Klinik. Verglichen mit einer gleichaltrigen Kontrollgruppe von Versicherten war die Rate schwerer Verkehrsunfälle bei Männern mit ADHS um 49 Prozent und bei Frauen um 44 Prozent erhöht.

Bezogen auf die Gesamtpopulation der ADHS-Kranken ereigneten sich in den Monaten mit ADHS-Medikation 12 Prozent weniger Unfälle bei Männern und 14 Prozent weniger bei Frauen.

Aussagekräftiger ist jedoch der intraindividuelle Vergleich. Hier wurde das Risiko für Unfälle mit einem motorisierten Fahrzeug in Monaten mit und ohne ADHS-Medikation bei den einzelnen Patienten berechnet.

Danach ist die Gefahr für einen Verkehrsunfall bei Männern in Monaten ohne ADHS-Medikation um 38 Prozent, bei Frauen um 42 Prozent höher als in solchen mit ADHS-Mitteln.

Für Frauen und Männer ähnlich gut

Nach den Kalkulationen von Chang und Mitarbeitern lassen sich – eine kausale Beziehung vorausgesetzt – 22 Prozent der schweren Verkehrsunfälle durch den Verzicht auf die ADHS-Medikation erklären. Mehr als jeder fünfte Unfall mit Personenschaden ließe sich bei ADHS-Kranken folglich verhindern, wenn sie regelmäßig ihre Medikamente nehmen würden.

Dieser Anteil scheint unabhängig von Alter, psychiatrischer Komedikation oder einer laufenden Psychotherapie zu bestehen, auch gab es praktisch keinen Unterschied zwischen Frauen und Männern. Für die Forscher aus Stockholm steht damit fest, dass die Medikation bei Frauen das Unfallrisiko in ähnlicher Weise senkt wie bei Männern.

In der genannten schwedischen Registerstudie hatten Forscher zuvor berechnet, dass sich etwa jeder zweite Unfall bei Männern mit ADHS vermeiden ließe, wenn diese ihre ADHS-Mittel nehmen würden.

Allerdings standen die schwedischen Männer nur ein Fünftel der Zeit unter der Medikation, in den USA immerhin die Hälfte der Zeit. Insofern passen die Zahlen gut zusammen.

Quote noch viel höher?

In einem Editorial geben Dr. Vishal Madaan und Dr. Daniel Cox von der Universität in Charlottesville im US-Staat Virginia zu bedenken, dass der Medikationseffekt deutlich unterschätzt werden könnte, wenn man nur auf die Verschreibungszahlen und die Unfall-Notaufnahmen schaut.

Zum einen sei unklar, ob die Patienten zum Zeitpunkt des Unfalls tatsächlich unter der Medikation standen. Viele Patienten mit einem Rezept würden gelegentlich ihre Medikation vergessen oder absichtlich auslassen, zudem könnten je nach Zeitpunkt der letzten Einnahme beim Unfall keine therapeutischen Wirkspiegel mehr vorhanden sein.

Bei Amphetamin-Präparaten könne es sogar zu einem Reboundeffekt kommen, wenn die Wirkspiegel sinken. Werde die Medikation um acht Uhr morgens genommen, führe dies gegen Mitternacht mitunter zu einem erhöhten Unfallrisiko, also zu einer Zeit, in der gehäuft schwere Unfälle auftreten.

Solche Aspekte sollten daher von Ärzten vermehrt berücksichtigt werden. Allerdings hatte die Studie nur Unfälle erfasst, bei denen die ADHS-Patienten verletzt wurden. Die meisten Unfälle führen jedoch nicht zu Personenschäden. Wie viel seltener Verkehrsunfälle insgesamt unter der Medikation auftreten, lasse sich daher nicht sagen.

22% der schweren Verkehrsunfälle an denen ADHS-Kranke beteiligt sind, lassen sich durch den Verzicht auf die ADHS-Medikation erklären.

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