Dunkle Schatten im Blick schrumpfen nach gezieltem Sehtraining

Jedes Jahre erleiden in Deutschland etwa 350 000 Menschen einen Schlaganfall. Bei etwa jedem sechsten von ihnen kommt es infolge dieses Ereignisses zu Sehstörungen, die sich häufig als Hemianopsie, Quadrantenanopsie, Skotom oder Tunnelblick manifestieren. Auch traumatische Schädel-Hirnverletzungen oder Hirntumoren können solche Sehstörungen hervorrufen.

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Dabei sind die Augen selbst vollkommen gesund. Ursache ist vielmehr eine gestörte neuronale Verarbeitung der visuellen Information - überwiegend im Sehnerv. Und diese kann offenbar durch ein gezieltes Sehtraining, die Visuelle Restitutionstherapie (VRT), zumindest zum Teil wieder reaktiviert werden.

Von Ruth Ney

"Der Nutzen der VRT ist gerade in jüngster Vergangenheit durch neue Studien bestätigt worden", betonte Professor Bernhard Sabel von der Universitätsklinik Magdeburg im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung". Nach diesen Daten sei davon auszugehen, daß sich bei etwa zwei Dritteln der Patienten die Sehfähigkeit nach einem halben Jahr Training signifikant bessert.

"Aus einer Befragung von 69 Patienten ging zum Beispiel hervor, daß die meisten Patienten deutliche Verbesserungen im Alltag erleben. Die Hälfte kann zudem besser lesen. Dreiviertel der Patienten haben eine größere Selbstsicherheit, sich draußen alleine zu bewegen und am Straßenverkehr teilzunehmen", so Sabel.

Das habe auch die retrospektive Auswertung von 300 Patienten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz bestätigt. Sabel und sein Team von der neuropsychologischen Abteilung haben die VRT in den 90er Jahren entwickelt und dafür sogar den Technologiepreis der Europäischen Gemeinschaft (2000) erhalten.

Effekt des Sehtrainings hält über mehr als drei Jahre an

Auf der internationalen Jahrestagung der Amerikanischen Schlaganfall-Gesellschaft wurden vor kurzem auch die Langzeitdaten einer kleinen Studie mit 24 Patienten vorgestellt, die sechs und zwölf Monate die VRT absolvierten.

Das Ergebnis: Nach sechs Monaten nahmen die Patienten 63 Prozent der Lichtreize war, vor Trainingsbeginn waren es nur 54 Prozent. Ein längeres Training verbesserte die Ergebnisse weiter. "Die wichtigste Erkenntnis aus dieser Studie aber ist, daß die Verbesserung der Sehfähigkeit auch nach Therapieende stabil anhält", so Sabel. Das habe die Kontrolluntersuchung nach dreieinhalb Jahren ergeben.

Und so läuft die Therapie ab: Im Sehzentrum Magdeburg oder bei einem kooperierenden Augenarzt wird das Gesichtsfeld vermessen. Aufgrund der Daten wird ein individuelles Trainingsprogramm erstellt. Die Software wird auf dem heimischen PC installiert, an dem die Patienten täglich insgesamt eine Stunde trainieren - insgesamt für mindestens sechs Monate. Der Kopf des Patienten wird von einer Kinnstütze gehalten, während er auf einen Lichtpunkt in der Bildschirmmitte blickt.

Gezielt werden Lichtimpulse in jene Bereiche des Gesichtsfeldes projiziert, die bislang Dunkel blieben. Jeder erkannte Lichtblitz wird per Tastendruck bestätigt. So zeichnet der Computer exakt auf, was objektiv gesehen wurde. Nach jeweils vier Wochen werden die Daten ausgewertet und das Trainingsprogramm wird den Fortschritten angepaßt.

VRT nutzt die Neuroplastizität zerebraler Neuronen

Die VRT nutzt dabei die als Neuroplastizität bezeichnete Fähigkeit zerebraler Neuronen, Verletzungen durch Reorganisation auszugleichen und ihre Aktivität entsprechend der Stimulationen aus der Umwelt anzupassen. So gehen auch die Magdeburger Wissenschaftler davon aus, daß es innerhalb des geschädigten Sehnervengewebes Zellverbände gibt, die ihre bildverarbeitende Funktion nur zum Teil eingebüßt haben und ihre Aktivität beziehungsweise Vernetzung durch gezielte Lichtstimulation gefördert werden kann.

Das Training kann jederzeit nach einem Schlaganfall begonnen werden. "Es gibt kein Zeitfenster für den optimalen Beginn. Weder Alter der Läsion noch Alter der Patienten sind ein eindeutiger Prädiktor für den Erfolg des Verfahrens", berichtet Sabel.

Lediglich für die Größe des teilgeschädigten Sehbereichs sei eine gewisse Korrelation gefunden worden, das heißt, je größer die Läsion, desto geringer der Erfolg. "Aber das ist ein statistischer Befund, der beim einzelnen Patienten oft ganz anders aussieht". So seien selbst bei Patienten mit kompletter Hemianopsie noch Residualerfolge erzielt worden.

Der Nutzen des Verfahren ist inzwischen auch von der FDA anerkannt worden. "Aber die Skepsis gegen Trainingsverfahren im Sehbereich ist im Gegensatz zur Logopädie oder Bewegungstherapie bei neurologischen Schäden leider nach wie vor hoch", so Sabel.

Durch eine Modifikation des Verfahrens kann der Erfolg offenbar gesteigert werden. Die ersten Ergebnisse eines solchen Sehtrainings fanden immerhin soviel Beachtung, daß sie vor kurzem in "Neurology" publiziert wurden (63, 2004, 2069).

Dabei mußten neun Patienten ihre Aufmerksamkeit nicht allgemein auf den Bildschirm mit dem üblichen Fixationspunkt in der Mitte im Auge richten, sondern gezielt auf ein dünn markiertes Aufmerksamkeitsquadrat auf dem PC, das einem Randbereich ihres Gesichtsfeldes mit residueller Sehfähigkeit entsprach. "Das ist so, als ob sie zwar die Türklinke fixieren, aber auch - ohne wegzugucken - auf ein Bücherregal achten, das zwei Meter entfernt ist" beschreibt Sabel. Dann wurden die Lichtreize gegeben.

Modifikation des Trainings erhöht den Erfolg sogar noch

Die Auswertung nach sechs Monaten ergab, daß sich die Sehfähigkeit bei den Patienten mit modifizierter VRT deutlich mehr verbessert hatte als bei jenen, die die übliche VRT absolviert hatten. Sabel: "Bei der perimetrischen Untersuchung wurde deutlich, daß das Ausmaß des reaktivierten Gesichtsfeldes exakt dem vorgegebenen Aufmerksamkeitsquadrat auf dem Bildschirm entsprach - als wäre es mit der Schere ausgeschnitten."

Vertrieben wird das Computerprogramm für das Sehtraining vom Unternehmen Nova Vision, das Sabel im Jahr 2000 mitgegründet hat. Die Kosten für die VRT einschließlich der klinischen Untersuchungen und Kontrollen in Höhe von knapp 3000 Euro müssen Patienten bisher selbst tragen.

Nach Unternehmensangaben gibt es aber Fälle, in denen Private Krankenversicherungen oder Gesetzliche Krankenkassen die Kosten im Einzelfall übernommen haben. Bei Unfallopfern sei auch gelegentlich ein Rententräger oder eine Berufsgenossenschaft eingesprungen.

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