ZNS

Die dritte Neuro-Revolution

Die Neurologie ist längst zu einer therapeutischen Disziplin geworden: Das lässt sich derzeit nirgends besser als bei der MS-Behandlung beobachten. Eine ganze Reihe neuer Medikamente sorgt hier für einen Paradigmenwechsel.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Das menschliche Gehirn gibt nach wie vor viele Rätsel auf.

Das menschliche Gehirn gibt nach wie vor viele Rätsel auf.

© Alexandr Mitiuc / fotolia.com

Es ist noch nicht so lange her, da waren Neurologen primär damit beschäftigt, Funktionsausfälle und Fehlsteuerungen des Nervensystems zu erkennen.

Mit Reflexhammer, Stimmgabel, Augenspiegel, EEG, EMG und Ultraschall suchten sie Auffälligkeiten, die auf eine periphere oder zen-tralnervöse Schädigung verwies - um es dann bei der Diagnose zu belassen.

Auch heute noch sind die diagnostischen Fähigkeiten der Neurologen sehr gefragt, doch mittlerweile haben sie ihren Patienten weit mehr anzubieten als fremd klingende Namen von Symptomen und Syndromen; oft ist bereits eine individualisierte Therapie möglich.

Den Anfang machte die Epilepsiebehandlung: Mit der Einführung von Phenytoin vor mehr als 70 Jahren begann die moderne neurologische Pharmakotherapie.

Inzwischen stehen Ärzten mehr als zwei Dutzend Antikonvulsiva zur Verfügung, nicht wenige davon wurden in den vergangenen zwei Dekaden eingeführt. Mit solchen Medikamenten werden gut zwei Drittel der Patienten anfallsfrei.

Als ähnlicher Erfolg erwies sich die Einführung von L-Dopa zur Parkinsontherapie Ende der 1960er Jahre. Damit ließen sich erstmals erfolgreich Patienten mit einer neurodegenerativen Krankheit behandeln.

Morbus Parkinson ist zwar eine progrediente Erkrankung geblieben, aber die Symptome können Ärzte über Jahre hinweg gut lindern. Zur Initial-, Eskalations- und Kombitherapie gibt es auch hier fast zwei Dutzend Wirkstoffe. Sie ermöglichen Therapeuten eine individuell abgestimmte Behandlung.

MS-Therapie vor gewaltigem Wandel

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Die dritte neurologische Revolution erleben wir derzeit bei der Therapie von Patienten mit Multipler Sklerose (MS).

Den Grundstein legte die Einführung von Interferonen und Glatirameracetat in den 1990er-Jahren: Damit konnten MS-Patienten erstmals von einer immunmodulierenden Basistherapie profitieren: Weniger MS-Schübe und eine langsamere Behinderungsprogression nahmen dieser furchtbaren Krankheit zumindest ein bisschen den Schrecken.

Und nun steht die Therapie bei MS vor einem gewaltigen Wandel: In keinem anderen Gebiet der Neurologie werden derzeit so viele Medikamente neu eingeführt und entwickelt.

Zugleich kommt es zu einem Paradigmenwechsel: Bisher erhielten die MS-Patienten zunächst eine Basistherapie mit Interferonen und Glatirameracetat, und wenn das nicht mehr genügte - oder bei hochaktiver Multipler Sklerose -, dann eben eine Eskalationstherapie mit Mitoxantron, Natalizumab oder seit Neuestem Fingolimod.

Mit diesem einfachen Schema ist es jetzt vorbei, und das haben Neurologen nicht zuletzt den beiden großen Zulassungsbehörden EMA und FDA zu verdanken.

Hatte die US-amerikanische Behörde FDA Fingolimod vor mehr als zwei Jahren als erstes orales Basistherapeutikum zugelassen, war das europäische Pendant hier weit zurückhaltender und belegte die Zulassung aus Sicherheitsgründen mit einer Reihe von Auflagen, sodass Fingolimod hierzulande vor allem als Zweitlinientherapeutikum verabreicht wird.

Inzwischen hat sich die EMA aber offenkundig zu einer anderen Politik durchgerungen: Der monoklonale Antikörper Alemtuzumab - eine hochwirksame Substanz - darf trotz eines aufwändigen Sicherheitsmonitorings bereits first-line verordnet werden. Einzige Bedingung: Es muss eine aktive MS vorliegen.

"Damit steht Alemtuzumab irgendwo ganz dicht hinter der Basistherapie, aber kilometerweit vor den Substanzen der Eskalationstherapie. Das muss man erst einmal verdauen", schreibt der MS-Experte Professor Volker Limmroth von der Universität Köln (DNP - Der Neurologe & Psychiater 2013; 10:3-4).

Mehr Therapiefreiheit für Ärzte

Noch breiter zugelassen hat die europäischen Zulassungsbehörde EMA den oral anwendbaren Wirkstoff Teriflunomid: Eine Behandlung ist damit generell bei Erwachsenen mit schubförmiger MS möglich. Vermutet wird nun, dass auch Diethylfumarat (BG12) und Laquinimod eine ähnliche Zulassung erhalten werden.

Die neuen Substanzen und ihre Indikationsstellungen, so Limmroth weiter, zwingen die Neurologen, ihre therapeutischen Konzepte grundlegend zu überdenken: "Das riecht nach viel Diskussion auf Symposien und Arbeit in Gremien und Konsensusgruppen."

Dieses Nachdenken lässt sich bereits auf Kongressen beobachten: Dort präsentieren MS-Experten jede Menge bunter Bilder mit komplexen Therapiealgorithmen.

Die Frage, welche Patienten wann künftig welches MS-Mittel bekommen sollen, bereitet den Neurologen zwar noch viel Kopfzerbrechen, doch letztlich sind viele Ärzte damit einverstanden, dass sie wieder selbst und nicht die Zulassungsbehörden darüber entscheiden, welches Medikament für ihre Patienten am besten ist.

"Der Zulassungstext gibt uns viel Freiheit zurück", sagte Professor Heinz Wiendl vom Kompetenznetz MS im vergangenen September auf dem Neurologenkongress in Dresden.

Ein Problem bleibt allerdings bei der Behandlung von Patienten mit Multipler Sklerose: Trotz guter Schubkontrolle entwickeln viele Patienten nach zehn bis zwanzig Jahren eine progressive Erkrankung. Sowohl hier als auch bei der primär progressiven Form werden dringend wirksamere Therapeutika gesucht.

Davon können Patienten mit Demenzerkrankungen bislang ebenfalls nur träumen. Hier sind die Wissenschaftler bei der Entwicklung neuer Arzneimittel in den vergangenen beiden Jahrzehnten überhaupt nicht gut vorangekommen, davon zeugen mehr als ein Dutzend gescheiterter klinischer Studien.

Auf dem G8-Demenzgipfel in London haben die wichtigsten Industrienationen nun immerhin beschlossen, alles zu tun, um bis zum Jahre 2025 eine wirksame Therapie zu entwickeln.

Es gibt also noch Grund zur Hoffnung, dass wir bei der Demenztherapie die vierte Revolution in der Neurologie erleben.

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