Gefährlich nach der Op

Gehirn aus dem Gleichgewicht

Plötzlich verwirrt: Bei einem Delir gerät das Gehirn aus dem Gleichgewicht. Im Krankenhausalltag tritt diese Störung vor allem nach Operationen auf. Intensivstationen beugen vor.

Von Helena Wittlich Veröffentlicht:
Stimmt etwas nicht? Von den Senioren auf Intensivstationen entwickeln bis zu 80 Prozent ein Delir.

Stimmt etwas nicht? Von den Senioren auf Intensivstationen entwickeln bis zu 80 Prozent ein Delir.

© Fotoluminate LLC / fotolia.com

Gerade hat der Patient noch gesagt, dass alles in Ordnung sei. Fünf Minuten später liegt er apathisch im Bett, spricht nicht mehr, ist verwirrt. Bei Pfleger Christoph Schubert läuten dann die Alarmglocken.

 Er testet den Patienten auf ein Delir. Diese Störung des Gehirns tritt oft nach Operationen auf. Nach aktuellen Studien sind bis zu 80 Prozent der älteren Patienten auf Intensivstationen betroffen. An der Berliner Charité schauen Ärzte, Schwestern und Pfleger deshalb ganz genau hin.

Pfleger Schubert arbeitet an der Charité-Klinik für Anästhesiologie. Dort beschäftigen sich Ärzte und Pfleger besonders intensiv mit Delir. Nicht jeder Patient wird dabei apathisch. Manche schlügen auch um sich, berichtet Schubert.

Wird ein Delir nicht erkannt, kann das bei Patienten zu dauerhaften Schäden führen. Betroffene können sich schlechter konzentrieren, kein Buch mehr lesen.

"Manche trauen sich auch gar nicht mehr aus dem Haus, weil sie die Orientierung verloren haben", sagt Professor Claudia Spies, Chefärztin der anästhesiologischen Klinik. Ohne Behandlung könne das Delir schwere Komplikationen im Herz-Kreislauf-System und bei der Atmung nach sich ziehen - und bis zum Tod führen. "Mit jedem unentdeckten Tag steigt die Sterblichkeit", erläutert die Ärztin.

Spezieller Test für Intensivstationen

Mit dem Beginn jeder Schicht testen Pfleger Schubert und seine Kollegen deshalb ihre Patienten. Dazu nutzen sie die "Confusion Assessment Method for the Intensive Care Unit" (CAM-ICU).

Sobald die Patienten wach sind, müssen sie nach der Hand des Pflegers greifen. Schubert buchstabiert dann Worte mit vielen "A", etwa Ananasbaum. Bei jedem "A" muss der Patient seine Hand drücken. Zwar sind Fehler erlaubt, dennoch merkt Schubert meist dann schon, dass etwas nicht stimmt.

Bei Delir spielen Entzündungen eine Rolle. Wie sie ausgelöst wurden, bleibt oft unklar. Als mögliche Ursachen gelten auch psychischer Stress, große Operationen oder Schlafentzug.

Oft trinken Patienten zu wenig. "Auch Schmerzen verursachen Entzündungen", sagt Chefärztin Spies. Aber zu viele Analgetika seien nicht gut. Bei der Narkose komme es auf die Balance an. Man dürfe das Hirn nicht mit zu vielen Arzneien aus dem Gleichgewicht bringen.

Nach Angaben der Deutschen Krankenhausgesellschaft verzeichnete das Statistische Bundesamt im Jahr 2014 fast 42.000 stationäre Fälle von Delir. Das sind 4000 Fälle mehr als 2012. Durch Alkohol oder andere Drogen verursachte Delirien sind nicht mitgerechnet. Doch wie viele Kliniken in Deutschland Patienten speziell auf Delir nach Op untersuchen, ist nicht bekannt.

Nach der Diagnose sind es meist die Pflegekräfte, die reagieren müssen. Schubert versucht zu erreichen, dass Patienten keine Angst haben. "Oft reicht es schon, einen Angehörigen hinzuzuholen", sagt er.

Der Patient sollte sich auf der Intensivstation wohlfühlen. "Musik hilft auch." Ganz besonders wichtig sei es, nach dem Aufwachen aus der Narkose Orientierung zu bieten. Dazu müsse zum Beispiel immer die Brille des Patienten bereit liegen. Regelmäßig nennen Pfleger ihren Patienten auch das Datum des Tages oder stellen eine Uhr gut sichtbar auf. Nachts wird das Licht ausgemacht. Nur so könnten Patienten sich an den Tag-Nacht-Rhythmus gewöhnen.

Eine bundesweite Leitlinie gibt es bisher nicht

Großbritannien hat bereits 2010 die Richtlinie "Delirium: Vorsorge, Diagnose und Behandlung" erlassen. Darin wird kritisiert, dass viele Ärzte und Pflegekräfte das Syndrom nicht erkennen. Eine bundesweite medizinische Leitlinie zum Umgang mit Delir gibt es nicht. Jedes Krankenhaus hat eigene Regeln. In der Forschung ist das Thema aber angekommen. 2010 erschienen 46 Fachartikel, 2015 waren es 113.

In Kanada und den USA befasst sich das "Hospital Elder Life Program" (HELP) mit Delir. 1993 gründete Dr. Sharon Inouye gemeinsam mit Kollegen der Yale University Medical School ein Zentrum, das sich auf die spezielle Pflege älterer Personen in Krankenhäusern konzentriert. Mit ihren Methoden wollen sie Delir im Klinikalltag frühzeitig verhindern.

Auch in Deutschland gibt es mittlerweile zusätzliche Betreuung für ältere Patienten nach amerikanischem Vorbild. Am Evangelischen Krankenhaus in Bielefeld arbeiten die Ärzte mit ehrenamtlichen Helfern, die den Patienten vorlesen, mit ihnen Kreuzworträtsel lösen oder einfach nur Gesellschaft leisten. So kann im besten Fall durch die intensive Betreuung ein Delir gar nicht erst entstehen.

Auch Angehörige sind gefragt. Für sie gelten Regeln im Umgang mit Delir. "Nicht wegreden", warnt Ärztin Spies. Pfleger und auch Angehörige bräuchten viel Geduld. Auch vor Operationen könne schon einiges geleistet werden.

"Patienten haben immer Angst", sagt sie. Die müsse man ihnen nehmen, etwa mit viel Aufklärung in Gesprächen. "Wir müssen ehrlich zu den Patienten sein", betont Spies.

Auf der Charité-Station schließt Pfleger Schubert die Tür eines Zimmers auf der modernen Intensivstation. Stille. Nichts piepst, die Monitore sind gut versteckt. Über den Betten hängen keine Neonstrahler, es leuchtet ein künstlicher Lichthimmel. Der sehe genauso aus wie der Himmel draußen, so Schubert. Auch das gehört zur Delir-Prävention. (dpa/eis)

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