Zuckungen, Schimpfwörter

Wie Kinder und Eltern unter Tourette leiden

Grimassen oder unsinnige Bewegungen sind bei vielen Kindern temporäre Phänomene. Nicht so die Tics beim Tourette-Syndrom: Hier ist bisher keine Heilung möglich. Eine Herausforderung gerade für die Jüngsten – aber auch ihre Eltern.

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Kinder, die unter dem Tourette-Syndrom leiden, schreien oft unwillkürlich.

Kinder, die unter dem Tourette-Syndrom leiden, schreien oft unwillkürlich.

© olly / Fotolia

Die Definition von "Tic" liest sich trocken: Motorische Tics sind plötzlich einsetzende, nicht vom Willen gesteuerte, zwecklose, abrupte kurze Bewegungen, die auf wenige Muskeln beschränkt sind.

Vokale Tics sind bedeutungslose Töne und Geräusche durch die Nase, den Mund oder aus dem Hals. Als eine Art "Schluckauf im Gehirn" können Tics gar nicht oder nur kurz unterdrückt werden, berichtet die Stiftung Kindergesundheit in einer Mitteilung.

Manche Tics laufen wie eine komplexe Bewegung ab: Der Betroffene schüttelt den Kopf, blinzelt, öffnet wie zum Gähnen den Mund und streckt den Kopf nach hinten durch. Häufig ähneln Tics auch einer scheinbar sinnvollen Bewegung.

Zum Beispiel: Das Kind hüpft oder klatscht; berührt irgendwelche Dinge oder sich selbst; wirft oder schlägt einen unsichtbaren Gegenstand in die Luft; rollt die Augen nach oben; berührt die eigenen (oder auch fremde) Geschlechtsorgane oder ahmt die Bewegungen anderer nach.

Es nimmt immer wieder merkwürdige, ulkige bis abstoßende Körperhaltungen ein, schneidet Grimassen, beißt sich auf Zunge oder Lippen.

Unangenehme Situationen für Eltern

Besonders unangenehm wird es für die Eltern, wenn ihr Kind Laute und Geräusche als Tics produziert wie schnüffeln, rülpsen, grunzen, schnalzen, schniefen, fiepen, räuspern, gurgeln oder klicken. Auch Schrei- und Bell-Laute kommen vor.

Mitunter werden auch Schimpfwörter oder Fäkalausdrücke wiederholt. Kinder und Jugendliche mit einer Tic-Störung haben oft auch andere Verhaltensauffälligkeiten: 50 bis 60 Prozent von ihnen sind von einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) betroffen.

Die Kinder versuchen oft, ihre Tics vor den Lehrern oder den Klassenkameraden zu verbergen. So kann es sogar passieren, dass der Kinderarzt während der Untersuchung keinen einzigen Tic beobachtet, das Kind jedoch in der entspannten Atmosphäre zu Hause häufige und ausgeprägte Tics zeigt.

"Das Positive ist: Die meisten Tics verschwinden so schnell, wie sie gekommen sind", so Professor Berthold Koletzko in der Mitteilung. "Einfache Tics dauern meist nur wenige Tage bis wenige Monate. Sie können verschwinden, erneut auftreten und bessern sich spontan bei etwa 70 Prozent der Kinder innerhalb eines Jahres".

Eine Behandlung ist deshalb oft gar nicht notwendig. Ermahnungen wie "Hör auf zu zucken" nützen wenig und bewirken nur, dass das Kind sich unglücklicher fühlt. Es braucht das Gefühl, auch trotz seines Tics geliebt und akzeptiert zu sein.

Tourette-Kranke: Gemieden und verspottet

Deutlich ungünstiger verläuft das seltene extreme "Gilles de la Tourette-Syndrom" (TS). Dabei werden mehrere Bewegungs-Tics mit mindestens einem vokalen Tic kombiniert. Häufig werden auch obszöne oder aggressive Wörter wiederholt.

Das Syndrom beginnt vor dem 21. Lebensjahr, am häufigsten mit sechs bis acht Jahren und kann ein Leben lang bestehen bleiben. Nach Schätzungen der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie sind davon über 40.000 Kinder und Erwachsene in Deutschland betroffen.

Tourette-Kranke werden von ihrer Umwelt meist gemieden, man hielt sie früher sogar für vom Teufel besessen. So stopfte sich der französische Fürst de Condé im 17. Jahrhundert Gegenstände in den Mund, um den Drang zum Bellen zu unterdrücken.

Ein anderer Tourette-Patient erfand ein Blasenleiden, damit er in Gesellschaft stets einen Vorwand hatte, um die Toilette aufzusuchen. Dort konnte er seinem Drang nachgeben, einen Schwall von Wörtern aus dem Fäkal- und Sexualbereich auszustoßen. Zar Peter der Große, Napoleon und auch Mozart sollen an Tic-Symptomen gelitten haben.

Das TS ist eine sehr komplexe Erkrankung: Es gibt nicht zwei Mal das gleiche Erscheinungsbild. Jeder Betroffene unterscheidet sich mit seinen Eigenheiten von allen anderen Betroffenen. Die Tics können sich auch ständig wandeln.

Die Neigung dazu kann offenbar auch vererbt werden. 50 bis 70 Prozent der Menschen mit mehrfachen Tics oder TS haben Verwandte mit der Störung.

Botenstoffe aus der Balance

Die Ursache der Krankheit ist weitgehend unbekannt. Angenommen wird ein gestörtes Gleichgewicht zwischen verschiedenen Neurotransmittern, wie eine Überfunktion von Dopamin und eine Unterfunktion von Serotonin. Dafür spricht, dass sich selbst schwere Fälle durch Medikamente lindern lassen, die auf die Dopamin-Rezeptoren einwirken.

Es gibt zudem Hinweise, dass auch Cannabis-Medikamente gegen Tics wirksam sind. Weil größere Studien hierzu fehlen, ist allerdings bisher keine dieser Arzneien zur TS-Behandlung zugelassen.

Auch lindert bisher kein bekanntes Medikament gleichzeitig alle TS-Symptome (wie Tic, Zwang, hyperkinetische Störung). Die zur Verfügung stehenden Medikamenten sind zudem nicht bei allen Patienten wirksam, Nebenwirkungen sind nicht selten und eine völlige Symptomkontrolle lässt sich bisher nicht erreichen.

Eingesetzt werden auch Entspannungsverfahren und Biofeedback-Techniken. Operative Therapien mit tiefer Hirnstimulation werden bisher nur in Studien untersucht.

Strukturierte Beratung notwendig

"Besonders wichtig ist daher die gründliche Beratung der Patienten und ihrer Familien", betont Koletzko. "Auch Erzieherinnen, Lehrer und eventuell auch Mitschüler sollten über die Erkrankung aufgeklärt werden, um einer Stigmatisierung der Tourette-Patienten entgegenzuwirken".

Kindern mit TS muss in der Schule gegebenenfalls ein Nachteilsausgleich gemäß Schwerbehindertengesetz gewährt werden. In Einzelfällen ist auch eine Eingliederungshilfe nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz möglich, so die Stiftung Kindergesundheit.

Vom Versorgungsamt wird TS auf Antrag als "Schwerbehinderung" eingestuft. Je nach Art und Ausprägung der Symptome werden 50 bis 80 Prozent als Grad der Behinderung (GdB) anerkannt. (eb/eis)

Hilfe für Betroffene: Tourette-Gesellschaft Deutschland, Zentrum für Seelische Gesundheit, Carl-Neuberg-Str. 1, 30625 Hannover. Telefon: 0511/5323551 (Sprechzeiten: Montag und Freitag 8 – 10 Uhr, Mittwoch 14 – 16 Uhr). www.tourette-gesellschaft.de

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