Soziale Isolation - ein großes Problem bei älteren Depressiven

Schätzungen zufolge leiden bis zu 40 Prozent der über 75jährigen unter Depressionen. Diese müssen aber nicht als alterstypisch hingenommen werden. Denn oft reicht es aus, die sozialen Verhältnisse zu verbessern. Wichtig ist es auch, daß die Patienten neue Anregungen finden, Neues kennenlernen und aus der Isolation herauskommen. Zudem lohnt ein prüfender Blick auf die bisherige Medikation und den Schilddrüsenhormonhaushalt.

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Richard Schmidmeier

17.30 Uhr, Wohnsaal des Altenheims: Ein knapp 70jähriger Patient im Rollstuhl sitzt da zusammen mit anderen und schreit plötzlich die Schwester an: "Ich will ins Bett, aber sofort!". Die Schwester versucht professionell, ihn zu beruhigen und abzulenken. Es gelingt nicht, der Bewohner ist völlig eingeengt, will sich unbedingt durchsetzen, ist nicht ablenkbar, ist aggressiv-dysphorisch und abweisend.

Der Patient wurde dem Psychiater nicht vorgestellt. Auf meine Nachfrage wird erklärt, der Patient habe einen Apoplex gehabt, könne sich zu Hause nicht mehr versorgen und sei deswegen ins Heim gekommen. Hier eskaliere die Situation regelmäßig, daher werde er wohl nicht bleiben können.

Wie ist diese Situation zu erklären?

Wir wissen, daß 40 bis 80 Prozent der Patienten nach einem Apoplex Depressionen (Post-stroke-depression) haben. Unser Patient hat eine agitierte Depression: Die Stimmung ist am Boden, allerdings bei erheblich gesteigertem Antrieb. Die meisten Patienten nach Apoplex sind nicht dazu zu bewegen, an etwas teilzunehmen, bei der Krankengymnastik oder beim Alltag mitzumachen, sich zu bewegen, sich begeistern zu lassen.

Ursache für dieses Verhalten ist natürlich einerseits, im Sinne einer reaktiven Depression, die Invalidität mit Pflegebedürftigkeit, die sozialen Folgen, nicht mehr alleine leben zu können und die Angst vor der Zukunft.

Andererseits ist durch die Verletzung von Hirngewebe offensichtlich die Homöostase der Informationsverarbeitung gestört. Durch die daraus resultierende Depression haben die Patienten keinen Antrieb mehr, das Denken ist meist gehemmt und verlangsamt, Assoziationen sind erschwert. Zudem sind viele körperliche Funktionen deutlich beeinträchtigt: Die Patienten haben Schlafstörungen, essen nichts mehr, nehmen an Gewicht ab, haben Verstopfung.

Depressionen bei alten Menschen haben oft mehrere Ursachen

Ursachen und Auslöser von Depressionen im Alter können vielfältig sein:

  • Gesundheit und Kräfte lassen deutlich nach. Die Betroffenen fällen die letzten großen Entscheidungen, sehen die alten Freunde sterben und werden einsamer. Anlaß genug für eine reaktive Depression!
  • Hinzu kommt eine organische Depression, also eine Depression, die durch Erkrankungen des Gehirns verursacht wird: Apoplex, zunehmende Durchblutungsstörung, die Parkinson’sche Krankheit oder auch maligne Neubildungen verändern die Informationsverarbeitung.
  • Natürlich gibt es weiterhin die sogenannte endogene Depression, bei der primär kein Auslöser zu finden ist, der "die Tiefe und die Schwere der Depression mit der Hemmung allen seelischen Geschehens" (K. Jaspers) erklären würde. Die Abgrenzung bleibt schwierig. Daher hat man sich in der ICD (Internationale Klassifikation der Krankheiten) auf die Beschreibung der Verlaufsform - leichte, mittlere und schwere Depression - beschränkt.

In den Statistiken und aufgrund von epidemiologischen Untersuchungen geht man davon aus, daß die Zahl der depressiven Patienten im Alter steigt. Von den über 75jährigen sollen bis zu 40 Prozent betroffen sein. Leider sehen viele Ärzte die Depression als alterstypisch an: Im Alter sei man so, da könne man nichts ändern, eine Therapie erübrige sich.

Diese Haltung wird lebensgefährlich, wenn Patienten über eine längere Zeit Depressionen haben. Sie haben keinen Appetit mehr, können sich nicht am Essen erfreuen, nehmen immer mehr ab, trinken nichts mehr, ziehen sich zurück. Wenn die Depression stärker wird, äußern sie "Ich will sterben". Oft wird die gesamte Reaktion von den Angehörigen, leider aber auch von den Kollegen, mißdeutet: "Er hat für sich beschlossen, zu sterben, da kann man nichts machen!".

Dieser Fatalismus ist völlig fehl am Platz und widerspricht allen Erfahrungen und moralischen Grundsätzen. Auch diese Menschen wollen leben. Wir müssen versuchen, ihnen zu helfen - und das gelingt meistens recht leicht und gut.

Die Zahl der Suizide ist im Alter am höchsten, bei den älteren Männern explodiert sie! Von den 70- bis 74jährigen Männern in Deutschland töten sich nach Angaben des Nationalen Suizid-Präventionsprogramms pro Jahr etwa 40 von 100 000, bei den über 85jährigen sind es etwa 110. Bei Frauen steigt die Rate in den genannten Altersgruppen von etwa 10 auf etwa 20.

Leider findet die Stimme der Psychiater keinen Widerhall bei den diversen Sterbehilfe-, Palliativ- und Patientenverfügungs-Initiativen, die im Augenblick gerade modern sind. Alle wollen das Sterben leichter machen, aber übersehen die Depressionen!

Dabei reicht es oft, die sozialen Verhältnisse der Patienten zu verbessern. Die romantische Lösung, bei der alte Menschen zu Hause von der Tochter versorgt werden, die liebevoll die Haare aus dem Gesicht streicht, ist obsolet. Pflege zu Hause ist ein knochenharter Job, vor allen Dingen ohne fachkundige Unterstützung bei der Grundpflege und oft ohne psychiatrisches Konsil.

Die soziale Einbindung in entsprechende Angebote, die mittlerweile in der ganzen Bundesrepublik flächendeckend vorhanden sind, entlasten die Familien und die Patienten. Tagesstätten, Wohnprojekte und Heime sind überall vorhanden. Wichtig ist, daß die Patienten neue Anregungen finden, Neues kennenlernen und aus der Isolation herauskommen. Dies alles kann dazu beitragen, daß sie nicht mehr depressiv sind - und wir als Ärzte können ihnen dabei helfen.

Nicht vergessen werden sollte, auch einen Blick auf die bisher gegebene Medikation zu werfen. So werden Herzglykoside häufig zu hoch dosiert, und Antihypertensiva können depressive Effekte haben. Aufgrund der bei alten Menschen häufigen Fehlernährung und des zu wenigen Trinkens kann es zu massiven Elektrolytverschiebungen kommen. Auch im Alter kann es zu Entgleisungen im Schilddrüsenhormonhaushalt (Hypothyreose) kommen, die eine Depression vortäuschen können.

Geeignet sind moderne serotonerge oder noradrenerge Substanzen

Die antidepressiv-medikamentöse Behandlung gestaltet sich heute relativ einfach. Die neuen Antidepressiva haben keine oder kaum anticholinerge Wirkungen. Für die Auswahl der antidepressiven Medikation sollten die Besonderheiten der Wirkstoffe berücksichtigt werden.

So haben die modernen selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) wie Escitalopram (Cipralex®) und Sertralin (etwa Zoloft®), aber auch ältere SSRI wie Citalopram (etwa Cipramil®), Fluoxetin (etwa Fluctin®), Fluvoxamin (etwa Fevarin®) und Paroxetin (etwa Seroxat®), kaum Nebenwirkungen und sind sehr gut verträglich. Selten kommt es zu Bauchschmerzen, relativ am häufigsten sind sexuelle Störungen wie Erektionsstörungen.

Die SSRI sind antriebsneutral und daher auch bei dementen Patienten mit Verhaltensstörungen wie Störungen der Impulskontrolle anwendbar. Reboxetin (Edronax®, Solvex®) ist besonders für Patienten mit gemindertem Antrieb geeignet. Die Patienten werden agiler und die Stimmung bessert sich.

Bei den kombinierten Antidepressiva, die serotonerg und noradrenerg wirken, ergeben sich weitere Vorteile: Mirtazapin (etwa Remergyl®) wirkt vor allen Dingen im niedrigen Dosisbereich schlafanstoßend, ohne einen Hang-over am nächsten Tag zu bewirken. Außerdem steigert es deutlich den Appetit. Als unerwünschte Wirkung kann es öfter zu Beinödemen kommen.

Venlafaxin (Trevilor®) und Duloxetin (Cymbalta®) wirken sehr gut antidepressiv. Zudem sind sie bei der Schmerztherapie beliebt und lassen sich sehr gut als Koanalgetika bei chronischen Schmerzen verwenden.

Natürlich sind auch standardisierte Johanniskraut-Präparate bei Älteren eine Option. Wichtig ist, die Dosis auszuschöpfen und die Interaktionen mit anderen Medikamenten zu beachten.

Die trizyklischen Antidepressiva sollten wegen der starken anticholinergen Wirkungen und der dann immer wieder gesehenen kognitiven Beeinträchtigungen bis hin zur Demenz nicht bei älteren Menschen gegeben werden.

Langsame Dosiserhöhung ist bei alten Menschen wichtig

Bei der Dosierung gilt vor allen Dingen bei alten Patienten "start low, go slow": Das Antidepressivum sollte in der niedrigst verfügbaren Dosierung für eine Woche gegeben und die Dosis dann langsam, je nach Verträglichkeit, in wöchentlichen Abständen erhöht werden. Die antidepressive Wirkung ist meist schon nach wenigen Tagen deutlich spürbar.

Wie lange die Therapie mit Antidepressiva bei alten Patienten dauern sollte, kann man noch nicht sicher beurteilen. Wir empfehlen zunächst mindestens ein halbes Jahr. Dann machen wir in Absprache mit den Patienten Reduktionsversuche. Etwa die Hälfte der Patienten kommt dann ohne diese Medikamente aus, die anderen profitieren deutlich von längeren Gaben von Monaten oder sogar Jahren.

Dr. Richard Schmidmeier, Fachbereich Gerontopsychiatrie, Bezirkskrankenhaus Gabersee, Gabersee 7, 83512 Wasserburg, Tel.: 08071 / 71-332, Fax: 71-661, schmidmeier.richard@gabersee.de

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