Essstörungen

Bulimie bei Diabetes wird oft übersehen

Essstörungen sind bei Diabetes-Patienten nicht selten - werden aber oft übersehen. Dabei können die Komplikationen schwerwiegend sein. Gezieltes Nachfragen hilft.

Dr. Thomas MeißnerVon Dr. Thomas Meißner Veröffentlicht:

AACHEN. Heißhungerattacken im Wechsel mit Erbrechen, der Einnahme abführender Medikamente oder exzessive sportlicher Aktivität - besonders bei jugendlichen Mädchen mit Typ-1-Diabetes muss damit gerechnet werden.

Bei bis zu 10 Prozent der Typ-1-Diabetikerinnen in der Adoleszenz sind unspezifische Essstörungen oder Bulimia nervosa in Studien nachgewiesen worden, berichten Dr. Christina-Maria Geisbüsch und Dr. Katharina Bühren von der Klinik für Psychiatrie an der Universitätsklinik Aachen (Monatsschr Kinderheilkd 2015; 163: 696-700).

Vor allem Bulimie häufig

"Junge Frauen mit Typ-1-Diabetes haben fast doppelt so häufig eine Essstörung wie gesunde Altersgenossinen, besonders Bulimie", erklären auch Privatdozent Bernhard Kulzer vom Diabetes Zentrum Bad Mergentheim und seine Kollegen (INFo Diabetologie 2014; 8: 30-35).

Binge Eating, also wiederholte Essattacken ohne gegenregulatorische Maßnahmen, scheint bei Typ-2-Diabetikern gehäuft vorzukommen.

Nicht erklärbare schwankende Blutzuckerwerte oder eine erschwerte Stoffwechseleinstellung können auf gestörtes Essverhalten hinweisen.

"Häufige Essstörungen bei Diabetes mellitus Typ 1 sind die Bulimia nervosa oder subklinische Essstörungen", so Geisbüsch und Bühren. "Die Anorexia nervosa tritt eher selten auf, ist dann aber häufig mit gravierenden medizinischen Komplikationen verbunden."

Die restriktiven oder bulimischen Esstörungen beginnen häufig schleichend. Kalorien- und fettreiche, häufig auch kohlenhydratreiche Nahrungsmittel werden gemieden, teils ganze Mahlzeiten ausgelassen. Die Folge ist Heißhunger, gefolgt von Essattacken.

Dann sollen die zugeführten Kalorien schnell wieder abgestoßen werden: Typische gegenregulierende Verhaltensweisen bei den Betroffenen sind Erbrechen, Medikamentenmissbrauch mit Laxanzien, Diuretika oder auch Schilddrüsenpräparaten.

Bei Typ-1-Diabetes werden Insulingaben ausgelassen (Insulin Purging), um eine Gewichtszunahme zu vermeiden.

Auch das Auslassen von oralen Antidiabetika bei Typ-2-Diabetes wird berichtet. Die Stimmung ist gedrückt bis reizbar, die Patientinnen ziehen sich sozial zurück. Bei Patienten mit Typ-1-Diabetes können schwere Hypoglykämien oder Ketoazidosen auftreten.

Symptome werden verharmlost

Diese Verhaltensweisen bleiben lange unentdeckt, zum einen, weil keine Krankheitseinsicht besteht oder Symptome verharmlost werden, zum anderen verhindert das Schamgefühl bei Bulimia nervosa oder Binge-Eating-Störung die offene Kommunikation darüber. Eine Anorexia nervosa fällt dagegen allein wegen des kachektischen Erscheinungsbildes auf.

Wie häufig solche Essstörungen sind, dazu gibt es sehr unterschiedliche Angaben. Sie liegen für subklinische Essstörungen zwischen 14 und 30 Prozent bei Typ-1-Diabetes, Angaben zum Insulin-Purging gehen von 6 bis 50 Prozent.

Die Anorexia nervosa scheint insgesamt unter Diabetes-Patienten nicht häufiger vorzukommen als in der Durchschnittsbevölkerung, für Frauen zwischen 15 und 35 Jahren liegt die Punktprävalenz bei etwa 0,4 Prozent.

Fragenbögen zur Diagnostik

Weil die ersten Anzeichen einer Essstörung von Angehörigen meist nicht bemerkt werden, komme der Diabetessprechstunde eine besondere Bedeutung zu, betonen Geisbüsch und Bühren. "Die Patientinnen sollten auf mögliche Symptome und auffälliges Essverhalten direkt angesprochen werden."

Erst durch die Konfrontation mit entsprechenden Fragen beginne bei den Betroffenen die Auseinandersetzung mit der Erkrankung. Um gezielt essstörungsspezifische Verhaltensweisen herauszufinden, können entsprechende Fragenbögen wie SCOFF* genutzt werden. Zusammen mit typischen Symptomen einer Essstörung ergeben sich daraus wichtige Hinweise.

Hilfreiche Fragen zur Diagnostik einer Essstörung sind:

  • Sind Sie mit Ihrem Aussehen und Ihrer Figur zufrieden?
  • Was ist Ihr Wunschgewicht?
  • Haben Sie manchmal Angst, durch die Therapie an Gewicht zuzunehmen?
  • Versuchen Sie, bestimmte Nahrungsmittel zu vermeiden oder weniger zu essen?
  • Essen Sie heimlich?
  • Haben Sie häufiger Heißhungerattacken, auch ohne Hypoglykämien?
  • Kommt es vor, dass Sie sich übergeben, wenn Sie sich unangenehm voll fühlen?
  • Machen Sie sich Sorgen, weil Sie manchmal mit dem Essen nicht aufhören können?
  • Versuchen Sie, die tägliche Insulindosis auf ein Minimum zu beschränken?
  • Haben Sie schon mal Insulin geringer dosiert oder ganz weggelassen, um nicht zuzunehmen?

Validierte Screeninginstrumente sind zudem der Diab-Ess (Diabetol Stoffw 2006; 1: 46-53) oder das "Brief Screening Tool for Disordered Eating in Diabetes" (Diabetes Spectr 2002; 15: 83-105).

Mit alleiniger Psychoedukation mit Informationen zu Entstehung, Symptomen und Folgen von Essstörungen könne weder die Stoffwechseleinstellung noch die Häufigkeit manipulativen Verhaltens bei der Insulintherapie signifikant beeinflusst werden, so Geisbüsch und Bühren.

Die Psychiaterinnen betonen die Bedeutung der engen Zusammenarbeit zwischen Pädiatern, Kinder- und Jugendpsychiatern sowie Diabetes- und Ernährungsberaterinnen.

Ein multimodaler Therapieansatz sei am ehesten erfolgversprechend. Gerade bei ausgeprägt gegenregulierendem Verhalten, deutlicher psychischer Beeinträchtigung mit depressiver Stimmungslage und sozialem Rückzug oder bei unzureichender Verbesserung der Symptomatik unter ambulanter Behandlung müsse die stationäre kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung angestrebt werden.

Denn ähnlich wie bei bei Jugendlichen mit Essstörungen ohne Diabetes mellitus bleibt ein gestörtes Essverhalten ohne Intervention häufig weiter bestehen.

*SCOFF - sick, control, one stone (6,5 kg), fat, food

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